Eine Betrachtung zu Jürgen Todenhöfer und seinem Buch „Die große Heuchelei“.


Jürgen Todenhöfer ist das beste Beispiel dafür, wie wenig hilfreich es ist, Menschen in Schubladen zu stecken, um sie danach anhand der Beschreibung der Schublade zu klassifizieren und sodann auf- oder abzuwerten. Außerdem zeigt er uns, dass es unzählige Wege gibt, für den Frieden auf unterschiedlichen Ebenen aktiv zu werden. Todenhöfer hat nicht DIE Lösung hierfür, sondern – und das ist viel besser – seine ganz eigene gefunden.


Darin steckt unter anderem eine Rolle als Diplomat, als Mittler zwischen Nationen – auch jenen, die nach dem offiziellen Narrativ keine direkten Beziehungen miteinander pflegen dürfen. Vater und Sohn Todenhöfer waren in einer Vielzahl von Situationen ganz nah am Elend des Krieges und dort weit weg von Politik und Diplomatie, die zwar auf ihre Art auch schmutzig sind, aber in gepflegten Räumen und sorgfältig gewählter – wenn auch verlogener – Sprache stattfinden. Doch Jürgen Todenhöfer hat ungeachtet dessen auch immer die Kontakte mit hochrangigen Politikern als wichtig empfunden und aufrecht erhalten – was im weiteren Text noch gewürdigt wird.

Seine Jahrzehnte gepflegte Nähe zu politischen Eliten öffnete ihm Türen, die anderen verschlossen bleiben. Solche Vernetzungen können puren Lobbyismus bedienen, müssen es aber nicht. Jürgen Todenhöfer scheint ganz offenbar ein Mensch zu sein, der Vertrauen genießt, da er sehr bewusst anderen Menschen Vertrauen entgegenbringt, quasi in eine Vorleistung geht. Er bringt Vertrauen entgegen und missbraucht entgegen gebrachtes nicht. So erinnert er mich diesbezüglich an den vor wenigen Jahren verstorbenen Peter Scholl-Latour.

Das – gepaart mit seinen finanziellen Möglichkeiten – erlaubt Jürgen Todenhöfer, sich als Wanderer zwischen den Welten zu bewegen und das ist nicht nur im geografischen Sinne gemeint. Denn seine Reisen schließen auch eine Bewegung über die gesamte Vertikale der Machthierarchie unserer Gesellschaft, von den Ärmsten, Mittellosesten und Rechtlosesten bis hin zu den Spitzen der Politik ein. Seine in eine Reihe von Büchern gefassten Einblicke strahlen die Glaubwürdigkeit des direkt Erlebten aus und dies gilt auch für sein neuestes Werk Die große Heuchelei (1).

Todenhöfer gibt uns in diesem Buch – manchmal fast beiläufig – die Puzzleteile in die Hand, die es benötigt, um Konflikte zu verstehen. Er setzt das Puzzle nicht zusammen. Er hat nicht vor, uns das Denken abzunehmen. Vielleicht kann er es auch gar nicht. Seine Analysen und Wertungen beschränken sich fast immer auf den ethischen Anspruch – seinen und den des von den westlichen Gesellschaften propagierten. Beispiele finden wir zuhauf – zum Beispiel in seinem Vor-Ort-Bericht aus Mossul:

„Schon Anfang 2003, kurz vor der US-Invasion, hatte ich sie [die Stadt Mossul] besucht und bewundert. Stundenlang war ich durch ihre Gassen geschlendert. Sunniten, Schiiten, Jesiden und Christen lebten hier harmonisch zusammen. Genauso wie Araber und Kurden.“ (2)

Merken wir auf, was uns Todenhöfer hier aus erster Hand vermittelt: Das allgemeine Narrativ hierzulande berichtet über Konflikte im Nahen und Mittleren Osten immerfort in einer Weise, laut welcher die unterschiedlichen Konfessionen, insbesondere die des Islam, nicht friedensfähig seien. Man macht religiösen Zwist als Ursache von Kriegen fest. Dem war und ist nicht so. Religiöse, über Ländergrenzen hinweg gewalttätige Extremisten übernahmen in jenen Staaten immer erst dann das Zepter, wenn westliche Staaten mit einem großen Instrumentarium an Machtmitteln in deren gesellschaftliche Prozesse eingegriffen hatten. Das war in Syrien nach 2011 nicht anders als in Libyen im selben Jahr und im Irak nach 2003. Es gilt aber ebenso für Afghanistan seit den 1970er – und Jugoslawien seit den 1990er Jahren. Sie erleben es außerdem im Falle Eritreas und des Jemen. Der Iran ist betroffen und Russland ebenso.

Todenhöfer setzt fort:

„Die Menschen waren mir gegenüber sehr freundlich, obwohl sie unter Sanktionen des Westens bitter zu leiden hatten. Diese Sanktionen, die der Vatikan „pervers“ nannte, hatten in Mossul tausende Menschen getötet. Im Gesamt-Irak hatten sie einer halben Million Kindern das Leben gekostet.“ (3)

Festzuhalten gilt: Eine der stärksten Waffen der Kriegsführung westlicher Staaten ist der Wirtschaftskrieg, der Aufbau eines umfassenden Sanktions-Regimes, das Abschneiden vom internationalen Zahlungsverkehr, die mit Gewalt durchgesetzte Blockade zur Lieferung lebensnotwendiger Güter, die damit beabsichtigte Verarmung und Schwächung des betroffenen Landes, um es für eine revolutionäre Situation reif zu machen. Diese Politik, Gesellschaften auf wirtschaftlich-sozialer Ebene auszubluten, wird von Politikern des Westens wie auch in den hiesigen gleichgeschalteten Medien verbrämt und verfälscht wiedergegeben. Man verkauft sie als „Strafmaßnahmen“ gegen „Diktatoren“ und deren Klientel. Man tut so, als ob die Sanktionen nur Einzelpersonen betreffen. Vielmehr wird auf zynische Weise die Begrifflichkeit „humanitäre Maßnahme“ in den Mund genommen. Man beschwört einen Genozid – und betreibt ihn höchstselbst. Sind sich die Rezipienten im Klaren, dass sie Teil dieses mörderischen Systems sind?

Das wahre Ziel des auch von Jürgen Todenhöfer so benannten Wertewestens ist ganz klar das Heranführen der Bevölkerungen an eine Schmerzgrenze, um gegen ihre Regierungen aufzubegehren. Die tieferen Ursachen, warum der Westen eine solche Politik wirklich betreibt – man ist fast geneigt zu sagen, betreiben muss -, reißt der Autor höchstens an. Doch sollten wir alle eben das tun. Jürgen Todenhöfer gibt uns, aber auch sich selbst – immer noch in Mossul weilend – weiteres Denkfutter:

„Nach der US-Invasion und dem Sturz Saddams hatte für die sunnitische Mehrheit Mossuls eine neue Leidenszeit begonnen. Die neuen schiitischen Herrscher gingen hart gegen die einst mächtigen Sunniten vor. Sie ließen sie spüren, dass ihre Zeit vorbei war. Durch Schikanen, durch Verhaftungen, durch Todesschwadronen.“ (4)

Hat Todenhöfer erkannt, wer das zu verantworten hatte? Ist ihm klar, dass dieser Zwist im Konzept des „Teile und Herrsche“ ganz bewusst von der US-Besatzungsmacht herbeigeführt wurde?


Wer die Ergebnisse der US-Interventionen weltweit als Fehlschläge der US-Politik begreift, liegt falsch. Geostrategen wie der verstorbene Zbigniew Brzezinski definierten die herbeigeführten Zustände vielmehr ausdrücklich als Ziele, um als weltweiter, angeblich unabhängiger Richter zum Austarieren von Machtbalancen auftreten zu können. Diese „Fehlschläge“ haben den USA über Jahrzehnte Macht und somit Einfluss gesichert.


Mit der kompletten Auflösung des irakischen Regierungsapparates schuf die US-Besatzungsmacht ein wirtschaftliches und administratives Chaos im Land – was fälschlicherweise in den Medien als Machtvakuum bezeichnet wird. Die politische Verfolgung des vorrangig sunnitisch geprägten entmachteten irakischen Beamtenapparates, wie auch das Installieren einer schiitisch dominanten Vasallenregierung, die ihrerseits umgehend damit begann, Sunniten zu diskriminieren, ermöglichte und förderte den Aufstieg von al-Qaida im Allgmeinen und des Islamischen Staates im Besonderen.

Ein nicht endendes Chaos im Nahen Osten zu schaffen („kreative Zerstörung“), um sich damit die Kontrolle über die Region zu sichern („Greater Middle East„), war das erklärte Ziel der ziokonservativen Eliten in Washington, nachdem sie die im Project for the New American Century (PNAC) verankerte globale Vorherrschaft der USA als verbindlich definiert hatten.

Dementsprechend benötigten die USA im Irak das Folgende: Zum einen eine korrupte, undemokratische und hörige, schiitisch geprägte Regierung, die fleißig mit den Erlösen irakischen Erdöls Produkte der boomenden US-Rüstungsindustrie kauft, den im Irak tätigen US-Unternehmen fette Gewinne garantiert und dabei in Schulden versank, welche über bei westlichen Banken neu aufgenommene Kredite bedient wurden. Zum anderen eine quantitativ rasch anwachsende, sunnitische, militante „Opposition“, die auf geheimnisvolle Weise radikalisiert und vollständig für einen Krieg ausgerüstet wurde. Schließlich noch die gezielte Förderung der Kurden im Norden des Landes, um deren Separatismus anzutreiben. Idealerweise kommt dann für „Die einzige Weltmacht“ so etwas heraus (b1):


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Neuer Naher Osten; Blutgrenzen: wie ein „besserer“ Naher Osten aussähe; Ralph Peters, Pentagon (b1)

Als Julian Assange per WikiLeaks dafür sorgte, Kriegsverbrechen der USA im Irak öffentlich zu machen, wurde auch bekannt, wie politische Gefangene in von den USA „betreuten“ Gefängnissen wie Abu Ghraib systematisch misshandelt wurden. Man kann diese Misshandlungen auch anders interpretieren: als Konditionierung extremistischer Führer einer zukünftigen, sunnitisch geprägten Armee, die sich später zum Beispiel Islamischer Staat oder Jabhat al-Nusra nennen würden (5,6).

Die geostrategischen Konzepte der USA – zur Sicherung ihres umfassenden Einflusses – sehen ganz klar vor, potenziell starke, heterogen geprägte Staaten zu zerschlagen und durch kleinere, gut lenkbare Staatsgebilde zu ersetzen. Unbedingte Voraussetzung für eine erfolgreiche Umsetzung ist das Entfachen von Hass zwischen unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen. Diesen, durch wohl kalkulierte Maßnahmen entfachten Hass, einen Hass, den er zuvor aus Mossul in keiner Weise kannte, hat Jürgen Todenhöfer beschrieben. Er lässt uns im Weiteren wissen:

„Doch im Juni 2014 eroberten überraschend ein paar Hundert IS-Kämpfer Mossul. […] Die Sunniten von Mossul wehrten sich nicht gegen die ’sunnitischen‘ Eroberer. Zusehr waren sie von den Schiiten schikaniert worden.“ (7)

Dieses Bild möchte ich vervollständigen. „Überraschend“ ist Teil des wertewestlichen Narrativs zum Phänomen des IS, samt seinem „unaufhaltsamen Aufstieg“. Ein stabiler Staat Irak – egal ob schiitisch, sunnitisch oder gemischt – wird letztlich auch ein souveräner Staat sein. Souveräne Staaten lassen sich nicht kontrollieren und gegeneinander ausspielen. Daher war der Aufstieg des IS eben nicht überraschend. Der Todesmut seiner Kämpfer und die Brutalität mit der er gegen seine Gegner vorgeht, können nicht genügen, um seinen Erfolg zu erklären.

Der IS besiegte wieder und wieder eine hochgerüstete irakische Armee – und das auch noch in Anwesenheit tausender US-Soldaten, Agenten und von den USA bezahlter Privatarmeen. Der zentrale Militärstützpunkt der USA für den Nahen Osten, CENTCOM ist nah. Die Interventionsmacht kann im Prinzip lückenlos aus der Luft aufklären und bombardieren. Trotzdem gelang es dem Islamischen Staat zum Beispiel in Mossul hunderte Humvees, fabrikneue gepanzerte Militärfahrzeuge, die der Irak gerade von den USA gekauft hatte, zu erbeuten. Eine Übermacht von 30.000 gut ausgerüsteten Soldaten war zuvor sang- und klanglos aus Mossul abgezogen worden und hatte diese Fahrzeuge „in der Hektik des Rückzugs“ zurückgelassen, sodass 800 Glaubenskrieger faktisch kampflos in Mossul einzogen (8).

Der IS fuhr in US-Kampfpanzern des Typs Abrams M1 durch die Gegend, die sich – so meine Vermutung – nur durch elektronische Codes starten und durch diese auch sperren lassen. Das kann auch aus der Ferne geschehen. Das sind hochmoderne Fahrzeuge, die einer qualifizierten Wartung und Bedienung bedürfen. Oder überschätze ich heutige moderne Waffentechnologien? Wer den Krieg im Nahen Osten tatsächlich steuert, das beschreibt Jürgen Todenhöfer – ohne sich dessen Tragweite tatsächlich bewusst zu sein. Er schreibt – wohl auch, um die Sprachlosigkeit angesichts des Geschehenen zu überwinden:

„Am 17. März 2016 waren rund 150 Menschen […] aus umkämpften Gebieten in ein leerstehendes Gebäude des Stadtteils Al-Jadidah geflüchtet. […] Es war unwahrscheinlich, dass sie durch Bomben angegriffen würden. Die US-Flugzeuge und Satelliten hatten ja leicht erkennen können, dass hier nur Familien mit Kindern Zuflucht gesucht hatten. Doch die Flüchtlinge irrten. Die US-Bomber kamen und feuerten vier Raketen auf das Haus ab. 137 Menschen wurden zerfetzt, verbrannt, von den Trümmern des Hauses erschlagen. (9)“

So sehr Jürgen Todenhöfer auch ahnt, dass die westlichen Staaten tief in die Entfachung und Aufrechterhaltung von Kriegen im Irak, Syrien, Jemen, Libyen, Mali, Afghanistan, Sudan, Kongo verwickelt sind. Der „Wertewesten“ steckt noch viel, viel tiefer in diesen Katastrophen. So weit mag Todenhöfer dann nicht gehen. Sein Bruch mit jenem Weltbild, das jener Schicht entspringt, der auch er entstammt, ist ohnehin bemerkenswert. 

Jürgen Todenhöfer hat einen moralischen Anspruch und diesen legt er auf alles, was er beobachtet. Für mich entstand bei der Lektüre seines Buches der Eindruck, dass hier der Wunsch, immer moralisch zu handeln, auch die Lösung aller Probleme beinhaltet. Geht so etwas überhaupt? Wenn ein irakischer Offizier, der Dutzende Kameraden bei der Befreiung des IS in Mossul verloren hat, nicht bereit ist, zwei tote IS-Kämpfer zu begraben oder Anweisungen dafür zu geben, ist das für den Deutschen moralisch verwerflich. Doch macht er es sich damit nicht zu leicht? Denn er ist nicht verstrickt in diesen Krieg, er ist „nur“ mitleidender, aber außenstehender Beobachter.

Doch sein konsequenter moralischer Anspruch ermöglicht es ihm auch, das Lügenhafte in den ständig moralisch gefärbten Stellungnahmen und Handlungen westlicher Politiker und Medienleute zu erkennen. Er reißt zwar diese moralisierende Fassade nicht zur Gänze ein, aber er sieht die Manipulation, die Lüge an sich:

„Ich glaube, dass wir draußen vor der Tür viele vergessen haben. Die politischen Eliten des Westens fordern die Errungenschaften unserer Zivilisation letztlich nur für den Westen. Für sich selbst. Sie interessieren sich nicht für die Rechte von Menschen in anderen Kulturkreisen. Ihre Menschenrechtspolitik gegenüber dem «Rest der Welt» ist eine Mogelpackung. Eine raffinierte Verhüllung kalter, oft brutaler Interessenpolitik. Heimliche kulturelle Apartheid.“ (10)

Sehr bewusst hat Todenhöfer sein Buch „Die Große Heuchelei“ betitelt. Er ist angewidert von der beständigen Heuchelei von Politikern, samt den ihnen hinterher hechelnden Medien – angefangen in den USA, fortgesetzt von hörigen europäischen Politikern. Er vernimmt die gesalbten Worte mit ihren vorgeschobenen, vermeintlich humanitären Absichten und erfährt aber während seiner Reisen den schreienden Widerspruch in der Realität. Er versucht sich und uns diese Heuchelei zu erklären. Doch oft ist da Fassungslosigkeit und Ohnmacht. Warum sprechen Leute in Machtpositionen immer von Werten, wenn sie doch in Wahrheit Interessen meinen? Folgerichtig nennt er den Untertitel seines Buches:

„Wie Politik und Medien unsere Werte verraten“

Sofort koppelte das in mir mit dem Begriff „westliche Wertegemeinschaft“ und der allgemein, wie selbstverständlich verbreiteten suggestiven Botschaft, dass der Westen besondere, einzigartige Werte in sich trägt. Jürgen Todenhöfer stößt damit – so meine ich – an seine Grenzen, wenn er versucht „unsere Werte“ – die von den westlichen Demokratien postulierten – als Versprechen, als ethische Verpflichtung festzumachen. Wohl deshalb lässt er sich doch hinreißen, zwischen „eigentlich“ guten und per se schlechten Menschen zu unterscheiden:

„Der tägliche Verrat unserer Werte macht es einem Politiker wie Trump leicht, sie hohnlachend über Bord zu werfen und ganz offen auf nationale «Eigeninteressen» zu setzen.“ (11)

Doch was soll das sein: „unsere Werte“? In mir trage ich meine ureigenen Werte als Mensch und nach diesen handele ich – und manchmal tue ich das nicht. Nicht anders ergeht es auch Jürgen Todenhöfer selbst. Er legt eine Elle an, die zu hoch ist, für die, die er anklagt und für ihn selbst ebenso. Die eigene Biografie kann ihm sagen, dass konsequent ethisch reines Handeln eine Illusion ist (12). Wir alle machen da ständig große und kleine Kompromisse.

Die herumposaunten Werte der westlichen Mächte aber sind von denselben nie mit der Absicht verkündet worden, auch umfassend verwirklicht zu werden. Der Westen hat so gesehen seine Werte nie verraten. Innerhalb des Systems, dem wir folgen sollen, gab es nie welche. Menschen dagegen haben sehr wohl ihre Werte – weltweit. Viele dieser Werte sind universell und berühren deshalb uns alle. Innerhalb von Machtstrukturen nutzt man das aus und vereinnahmt mittels Propaganda die uns innewohnende Ethik und damit unser Selbst. Denken in Macht vergewaltigt uns mit samt unseren wahrhaftigen Werten für egoistische Interessen.


Es sind letztlich nicht die „westlichen Werte“ sondern die ureigenen ethischen Werte des Menschen Jürgen Todenhöfer, für die eben dieser in seinem Buch leidenschaftlich wirbt. Das ist die für mich entscheidende Note des Buches: der nicht müde werdende Appell an unsere Humanität, an unser friedliches, gemeinsames Menschsein.


Getroffene Hunde bellen und fast folgerichtig wird Todenhöfer von devoten Transatlantikern wie dem Chefredakteur der Zeit, Joseph Joffe, der mit seinem Verständnis von Moral noch jeden „humanitären Einsatz“ gerechtfertigt hat, hart und respektlos angegriffen. In der Replik auf ein früheres Buch Todenhöfers verstieg sich Joffe in den Wahn dieser Moral eines klassischen Bellizisten – ganz nach dem Motto „Wir sind die Guten“:

„Dieser absolute Pazifismus [Todenhöfers] ist der zentrale Denkfehler. Wer die Friedfertigkeit als höchstes Gut proklamiert, sagt gleichzeitig, dass er jeden anderen Wert im Namen des Friedens zu verraten bereit sei: Familie, Freunde, Nation, dazu Freiheit, Gerechtigkeit und Unabhängigkeit.“ (13)

Joffe als Kriegs-Demagoge hat mit diesem Argument noch jeden Krieg der letzten drei Jahrzehnte, so er vom Wertewesten geführt wurde, in einen Friedenseinsatz umgelogen. Leute wie Joffe richten – meiner Ansicht nach – die verheerendsten Schäden in den Köpfen der Menschen an.

Jürgen Todenhöfer hat in seinem Buch auch versucht, zu beantworten, warum er selbst das tut, was er tut: Reisen zu unternehmen, die von unserer Warte aus zuweilen den Eindruck erwecken, dass da ein Mensch von Todessehnsüchten getrieben ist.

Ungeachtet der Antworten, die er sich dazu selbst abringt, denke ich, dass sich mit dieser „Reiselust“ auch die inneren Konflikte, geboren aus der Widersprüchlichkeit der Erfahrungen des Jürgen Todenhöfer manifestieren. Er ist auf der ständigen Suche nach Wahrheit, nach Gewissheit und jede Erkenntnis treibt ihn zu einer neuen Suche. Ja, er ist ein Getriebener. Das scheint zu seinem inneren Wesen zu gehören. Solche Menschen sind sehr wertvoll, weil sie in Grenzbereiche vorstoßen und außerdem ihre dort gemachten Erfahrungen an uns weitergeben (a1).

Wagemut bedarf des Glücks, was auch das des Tüchtigen ist. Wünschen wir Jürgen Todenhöfer und seinem Sohn, dass sie dieses Glück nicht verlässt. Zumal die beiden dort hingehen, wo es weh tut, zu sehen. Wo das Leiden und der Tod von Menschen durch die große Nähe ganz anders fühlbar werden, überwinden sie – mit ihrer wahrhaftigen Empörung – auch die Schere im Kopf.

Das zeigte sich im Buch sehr deutlich, als der Publizist über seine Erlebnisse in Palästina berichtete. Er hat dort geradezu physisch eine völlig andere Opfer-Täter-Rolle wahrgenommen, als jene, welche von der israelischen Politik als Rechtfertigung für ihre Apartheid gegenüber den Palästinensern vorgeschoben wird. Er nimmt mit seiner entschiedenen Verurteilung dieser Politik bewusst in Kauf, von einer sehr umtriebigen Israel-Lobby hier in Deutschland als Antisemit verunglimpft zu werden.

Einen Teil seiner Einnahmen aus dem Buchverkauf spendet Jürgen Todenhöfer für die Betreuung traumatisierter, palästinensischer Kinder. Im März 2016 brachte er selbst 50.000 Euro nach Gaza mit und erlebte mit den Kindern einen Nachmittag auf einem Bolzplatz. Stunden später geschah dies:

„In der Nacht dieses wundervollen Tages hörten wir Explosionen. Ein Luftangriff, obwohl die Kampfhandlungen seit über einem Jahr beendet waren? Am nächsten Tag erfuhren wir, dass es tatsächlich einen israelischen Angriff auf eine Militäranlage der Hamas gegeben hatte. Splitter einer Rakete hatten ein Bauernhaus in der Nähe unseres Fußballplatzes getroffen. Und dort die sechsjährige Isra’a und ihren Bruder, den zehnjährigen Yassin, im Schlaf getötet. Wir waren zurück in der Realität.“ (14) 

Warum taten die Israelis das? Todenhöfer fährt fort:

„Vor dem israelischen Luftangriff hatte offenbar eine extremistische palästinensische Splittergruppe eines ihrer idiotischen Kassam-Geschosse auf israelisches Gebiet gefeuert. Und wie meist nichts getroffen. Die israelische Regierung machte für diesen Angriff die Hamas verantwortlich. Obwohl sie wusste, dass die Hamas seit Längerem keine Raketen mehr abfeuerte. Und auch nicht jeden Winkel Gazas kontrollieren konnte. Kassam-Geschosse konnten aus jeden Garten, aus jeder Hausruine abgeschossen werden. In Israel war bekannt, dass die Hamas teilweise brutal gegen radikale Splittergruppen in Hamas vorging. Aber solche Details spielten bei den «Abstrafaktionen» Israels keine Rolle.“ (15)

Unter dem Eindruck des Erlebten schrieb Todenhöfer einen öffentlichen Brief an den israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu, in dem er an dessen Mitgefühl appellierte. Ob Netanjahu den Brief überhaupt gelesen hat, ist nicht bekannt.

Im Angesichts des Leides der Menschen suchte Todenhöfer auch zu weiteren Spitzenpolitikern den Kontakt: zum syrischen Präsidenten Baschar al-Assad – den er selbst als Diktator bezeichnet -, oder zum Neokonservativen Richard Perle, einem der Hauptgestalter von PNAC (siehe oben). Todenhöfer vermittelte Ende des Jahres 2015 sehr ernsthafte Angebote des syrischen Präsidenten zur Konfliktbeilegung an die US-amerikanische Regierung und persönlich an die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel. Keine dieser Initiativen hat in irgendeiner Weise das politische Tun der Adressaten verändert. Was allerdings dieses Schreiben nicht sinnlos macht. Vielmehr müssten politisch Verantwortliche auch hier in Deutschland mit diesen regelrecht zugeschüttet werden.

Der ehemalige Konzern-Vorstand Jürgen Todenhöfer gibt mit diesem Auftreten dem namenlosen menschlichen Leid, das ja selbst in dieser Namenlosigkeit – dort wo es nicht passt – verschwiegen wird, wieder ein Gesicht.

Am Menschen Jürgen Todenhöfer mit seiner einzigartigen Biografie lässt sich begreifen, dass Schubladendenken unserer Erkenntnis nicht dienlich ist und stattdessen zur Spaltung zwischen uns Menschen beiträgt. Todenhöfer entstammt einer Klasse im System, deren Mitglieder auch Kapitalisten genannt werden. Doch ist eine jede Persönlichkeit komplex und wandelbar. Die Reduzierung auf diese eine Klassifizierung wird dem Menschen und auch seinen Ansichten und ethischen Ansprüchen und Handeln nicht gerecht. Es ist keinesfalls so, dass eine Nähe zu Eliten zwangläufig korrumpieren muss. Ob und inwieweit das geschieht, hängt in letzter Instanz von der Persönlichkeit des Betreffenden ab und was für den ehemaligen Burda-Vorstand gilt, hat auch für jeden anderen Menschen Gültigkeit – unabhängig von seiner gesellschaftlichen Stellung.

Jürgen Todenhöfer ist aufrichtig empört. Seine Trauer und der Zorn ob des gesehenen menschlichen Leids anderswo lassen ihn mit einem System abrechnen, das unser aller System ist und in dem wir also leben. Wir leben gut in dem System und Todenhöfer ahnt, dass unser Wohlstand mit den Kriegen „da unten“ zu tun hat. Auch wenn er es nicht wagt, die tieferen Ursachen der Kriege, die von den Nationen der sogenannten westlichen Wertegemeinschaft losgetreten wurden, zu erforschen.

Er zweifelt nicht am System selbst, sondern meint, dass „nur“ dessen ethische Grundlage wieder freigelegt werden muss. Er bleibt bei einer rein ethischen Sicht und kritisiert aus dieser heraus die Unehrlichkeit in der moralischen Bewertung anderer Gesellschaften und Menschen durch den Wertewesten. Letztlich reflektiert er damit auch sein eigenes, dieser geforderten Ethik widersprechende Tun in der Vergangenheit (a1). Folgerichtig appelliert er an die Entscheidungsträger, ehrliche Politik zu betreiben.

Das schmälert aber in keiner Weise seine Leistung, die darin besteht, den „anderen Part“, das von Politik und Medien des Mainstreams Verschwiegene, offen zu legen.

Todenhöfers Recherchen, seine Suche vor Ort nach der Wahrheit und sein daraus entstandenes Buch „Die große Heuchelei“ sind vorrangig Appelle an das Verstehen der Menschen und vor allem für den Frieden. Seine Ansagen sind emotional, teils verzweifelt, doch immer authentisch. Er ruft unsere Gesellschaft als Ganzes zu echter – statt der vorgeschobenen heuchelnden – Humanität auf. Die Botschaft Frieden zu leben, sie ist das Wertvollste an diesem Buch.

Bleiben Sie bitte schön aufmerksam.


Anmerkungen und Quellen

(a1) Jürgen Todenhöfer hatte durchaus seinen eigenen konfliktreichen Weg zu bewältigen, bis er so kompromisslos wie heute für den Frieden eintrat. In der Vergangenheit trat er sehr wohl parteiisch auf und unterstützte aktiv Kriege für „höhere Werte“, so wie in Afghanistan in den 1980er Jahren.

(Allgemein) Dieser Artikel von Peds Ansichten ist unter einer Creative Commons-Lizenz (Namensnennung – Nicht kommerziell – Keine Bearbeitungen 4.0 International) lizenziert. Unter Einhaltung der Lizenzbedingungen kann er gern weiterverbreitet und vervielfältigt werden.

(1) Jürgen Todenhöfer; Die große Heuchelei – Wie Politik und Medien unsere Werte verraten; 2019; Propyläen (Ullstein Buchverlage GmbH); ISBN 978-3-945-10003-5; im weiteren benannt JTGH

(2) JTGH; S.18/19

(3,4,7) JTGH; S.19

(5) B. Vorsamer; 7.4.2010; https://www.sueddeutsche.de/politik/wikileaks-video-wie-die-bilder-aus-abu-ghraib-1.4026

(6) Samuel J. Provance, WikiLeaks; 13.2.2006; https://file.wikileaks.org/file/us-provance-2006.pdfhttps://wikileaks.org/wiki/Abu_Ghraib_whistleblower_Samuel_Provance_statement,_unredacted,_13_Feb_2006

(8) 12.6.2014; https://www.theguardian.com/world/2014/jun/11/mosul-isis-gunmen-middle-east-states

(9) JTGH; S.41/42

(10) JTGH; S.28

(11) JTGH; S.37

(12) https://de.wikipedia.org/wiki/J%C3%BCrgen_Todenh%C3%B6fer; abgerufen: 28.4.2019, 11:00 Uhr

(13) Joseph Joffe; 20.2.2014; https://www.zeit.de/2014/08/juergen-todenhoefer-du-sollst-nicht-toeten

(14) JTGH; S.85/86

(15) JTGH; S.86

(b1) Blood borders: How a better Middle East Would Look; Ralph Peters; 2006; Armed Forces Journal; http://www.armedforcesjournal.com/blood-borders

(Titelbild) Kind, Leid, Krieg, Zerstörung; KELLEPICS (Pixabay); 27.7.2017; https://pixabay.com/de/photos/krieg-kind-leid-zerstörung-verlust-2545307/; Lizenz: Pixabay License

 

Von Ped

7 Gedanken zu „Grenzgänger für den Frieden“
  1. Schade, selbst hier (wirklich gute Artikel) wird der Mythos eines NATO-Krieges gegen Jugoslawien gepflegt. Kurz skizziert: da die westlichen Gelder an Jugoslawien aufgrund des Zusammenbruchs des Ostblocks wegfielen, wollten die chronisch bankrotten Serben über den gemeinsamen Finanzhaushalt mehr Geld von den Kroaten und Slowenen (Haushaltssitzungsprotokolle von 1989 können eingesehen werden). Zuerst zeigten die Slowenen den Mittelfinger, später sahen die Kroaten das Projekt Jugoslawien langsam als gescheitert an.

    1. Lieber Herr Jungeleit,

      bei Ihrem Kommentar musste ich leider Hand anlegen. Erstens ist er das, was man in neudeutsch OT nennt. Das von Ihnen angesprochene Thema hat also gar nichts mit dem Artikel zu tun. Zweitens belegen Sie Ihre Behauptungen nicht. Nur Ihre erste Behauptung habe ich mal stehen lassen:

      „Kurz skizziert: da die westlichen Gelder an Jugoslawien aufgrund des Zusammenbruchs des Ostblocks wegfielen, wollten die chronisch bankrotten Serben über den gemeinsamen Finanzhaushalt mehr Geld von den Kroaten und Slowenen (Haushaltssitzungsprotokolle von 1989 können eingesehen werden).“

      Zu kurz skizziert, Herr Jungeleit. Bitte präzisieren Sie einmal, um was für „westliche Gelder“ es da genau ging. Wie war die Vorgeschichte, warum waren die Kassen des jugoslawischen (nicht des serbischen!) Staatshaushaltes so klamm? Wer führte das herbei und schlug Kapital daraus? Woher kommen Sie auf die These, dass der „Zusammenbruch des Ostblocks“ zum „Wegfall westlicher Gelder“ führte?

      Es gibt hier im Blog auch Artikel zu Jugoslawien. Wenn Sie interessiert sind, können Sie dort gern die Diskussion suchen.

      Freundliche Grüße, Ped

      1. Den OT-Vorwurf sehe ich zwar unbegründet, es würde nämlich bedeuten, Ihre Aussage zu Jugoslawien dürfte nicht hinterfragt werden. Ihre Aufforderung komme ich aber gerne nach:

        „Die Inflation kletterte im Dezember auf 250 % (vgl. Lohoff 1996, 116), die offizielle Arbeitslosigkeit betrug im Landesdurchschnitt 16 % (vgl. Djekovic 1991, 137), und die Reallöhne waren um mehr als ein Drittel niedriger als 1979 (ebenda, 139). Die Auslandverschuldung stieg auf 21 Mrd. Dollar, und nachdem Jugoslawien viele wirtschaftspolitische Auflagen nicht einhalten konnte, drohte der IWF mit einem Abbruch der Beziehungen (vgl. Thörner 1999, 102). Die eigentliche Ursache für das Scheitern der Regierung war die Zinspolitik für hochverschuldete Betriebe und damit die steigende Inflation.“

        Quelle: Google – Ökonomische Ursachen des Zerfalls Jugoslawiens – Uni Trier.

        Der Bund Jugoslawen besaß wie die BRD einen Länderfinanzausgleich und wie in Deutschland profitiert davon jemand. Den rhetorischen Mittelfinger zeigten die Slowenen am 22. Januar 1990 „Außerordentlichen Parteikongress des Bundes der Kommunisten“. Dieser Tag war der Startschuss zum Ende Jugoslawiens; bei Google sind zahlreiche Quelle zu den Ereignissen vorhanden. Man sollte auch das Gesetz vom Februar 1987 googlen, das Lohnkürzungen und die Zurückzahlung zu viel gezahlter Löhne vorsah. Daraufhin kam es zu einer Welle wilder Streiks v.a. in Zagreb und Belgrad und zu Straßenschlachten mit der Polizei. Die Bundesregierung drohte mit dem Einsatz der Armee. Insgesamt gab es im Sommer 1987 etwa 4000 Streiks. Die Situation wurde aber noch schlimmer, bspw. wurden in den ersten 9 Monaten 1990 knapp 900 Betriebe mit über 500 000 Arbeitnehmer geschlossen. Der IWF sicherte zwar 1990 einen wiederholten Stand-by-Kredit in Höhe von 600 Millionen Dollar zu und ermöglichte die gerade überfällige Umschuldung der Auslandsverbindlichkeiten (Quelle s.o. Uni Trier S.78), aber das war es dann auch. Die Wirtschaft besonders im Süden (Serbien) des Bundes war zu veraltet und marode. Die Massenproteste gingen weiter, im April 91 streikten bereits 700000 Metall- und TextilarbeiterInnen in Serbien. Die Lösung des Milošević-Clans war Nationalismus, die Opferrolle und Krieg.

        1. Nun, Sie haben sich doch die Frage selbst beantwortet. Nochmal meine Frage: Warum exakt konnte Jugoslawien seine Schulden nicht bedienen?

          Wie läuft es denn so, das mittels IWF und Weltbank vermittelte Kreditgeschäft? Vielleicht fallen Ihnen ja noch ein paar Dutzend andere Länder ein, in dem das ähnlich ablief. Außerdem war in jenen Jahren noch was mit Öl und anderen Rohstoffen. Wie hat sich das ausgewirkt?

          Glauben Sie, Jugoslawien ist wegen der „Gier des Milosvic-Clans“ auf die Idee gekommen, Löhne zu kürzen? Wenn nicht die, wer dann?

          Was genau hat der IWF vor 1989 von Jugoslawien verlangt? Zu was hat das geführt? Nachdem, was Sie oben aufgeführt haben, können Sie sich das alles selbst zusammen reimen. Viel von dem damals ist in jüngerer Vergangenheit in gleicher Art und Weise wiederholt wurden in einem anderen südlichen Land mit „veralteter Wirtschaft“. Als ob das ein Problem für das jeweilige Land sein muss. Das ist es natürlich nicht, denn der Neoliberalismus ist kein Naturgesetz sondern eine Ideologie. Jugoslawien wurde gezwungen, sich wirtschaftlich „dem Markt“ zu öffnen. Man nennt das Reformen, Sie wissen schon.

          Das Thema Jugoslawien spielte innerhalb dieses Artikels hier eine Rolle als Beispiel, wie man von außen Schwächen im System – die Jugoslawien zweifellos hatte, welches Land hat die nicht – ausnutzt, um Bevölkerungsgruppen gegeneinander aufzuhetzen.

          Gerade was den Nationalismus betrifft, lohnt sich zu forschen, wie und durch wen der in Kroatien und Bosnien angefacht wurde und welche Besucher da handfest, ideologisch-militärische Unterstützung leisteten. Wussten Sie, dass dort tausende islamistische Kämpfer aus dem Nahen und Mittleren Osten syrische Verhältnisse probten?

          Freundliche Grüße, Ped

          PS: Es ist eh ein Artikel in der Pipeline, der sich mit den tieferen Ursachen des Jugoslawien-Konflikts befassen wird. Nur so viel: das Narrativ eines Diktators, der sein Volk unterdrückt, taugt – welch Wunder – auch in Jugoslawien nicht. Bis zur Veröffentlichung wird aber noch etwas Zeit vergehen, daher also bitte etwas Geduld.

  2. Ich teile Ihre Meinung, dass Weltbank/IWF als geopolitisches Instrument zur Kontrolle/Destabilisierung von Staaten benutzt wurden/werden. Aber wie ich im gekürzten ersten Kommentar betonte, waren die wirtschaftlichen Verbindungen Serbien/Milošević-Clans und dem Westen gut und sind gut. Bereits 2005 rief die Weltbank wieder auf, in Serbien zu investieren. Weil angeblich kein Land auf dem Balkan dafür besser geeignet wäre. (Quelle PricewatherhouseCoopers:EU kompakt Aktuelles aus Mittel- und Osteuropa PricewaterhouseCoopers. 17. Ausgabe, Oktober 2005) Trotzdem hängt Serbien bis heute u. a. am russischen „Tropf“; die damalige Arbeitslosenquote lag bei 16 %, heute bei 16,7 %. Da gibt es strukturelle Probleme, die bis heute nicht gelöst sind.

    Die Frage, warum Jugoslawien seine Schulden nicht bedienen konnte, könnte platt mit den Wort Sozialismus beantwortet werden. Der Zusammenbruch der sozialistischen Staaten 1989-1991 beruhte in erster Linie auf der Planwirtschaft, wo am Ende immer die Pleite wartet. Eine bessere Frage wäre, warum konnten die Slowenen und Kroaten (hatten bereits Reformen durchgeführt und forderten weitere), aber die Serben ihre Beamten nicht mehr bezahlen: „Am 28. Dezember 1990 beschloss das serbische Parlament in einer geheimen Abstimmung, durch eine illegale Anleihe bei der Jugoslawischen Nationalbank neues Geld im Gegenwert von 1,4 Milliarden US-Dollar in Umlauf zu bringen, um überfällige Gehälter auszuzahlen. Der jugoslawische Ministerpräsident wurde hiervon erst am 4. Januar anonym informiert. Im Jahr 2003 bezeichnete er als Zeuge im ICTY–Prozess gegen Milošević diesen Vorfall als „daylight robbery, pure and simple“.

    Quelle Holm Sundhaussen: Jugoslawien und seine Nachfolgestaaten 1943–2011. Eine ungewöhnliche Geschichte des Gewöhnlichen. Wien 2012, Böhlau Verlag. ISBN 978-3-205-78831-7, S. 217

    Die schon unter Tito gewachsenen unterschiedlichen wirtschaftlichen Entwicklungen der Bundesländer auf Neoliberalismus, IWF und Weltbank zu schieben, ist zwar einfach, aber nicht logisch. Die Landesparlamente verfolgten über die vielen Jahre hinweg unterschiedliche wirtschaftliche Philosophien, die an Produktivität immer weiter auseinanderdrifteten. Wie erwähnt, der 14. Kongress des Bundes der Kommunisten Jugoslawiens 22. April 1990 mit der Weigerung der Serben, politische und wirtschaftliche Reformen zuzulassen, beendete nach 45 Jahren de facto die Herrschaft der Kommunistischen Partei in Jugoslawien.

    Und abschließend zum Milošević-Clan. Einfach mal bei Google Marko Milosevic, Mirjana Markovic, Mihalj Kertes oder Ivan Mrkic – der in Serbien als „Tresorwächter Milosevic'“ bezeichnet wird – eingeben. Mrkic versteckte während seine Zeit von 1992 bis 2000 als Botschafter auf Zypern die Milosevic-Reichtümer. Aber das sind nur einige Namen.

    Natürlich kann solch ein komplexes Thema in einer Kommentarspalte nicht hinreichend diskutiert werden. Ich bedanke mich für den Gedankenaustausch und beim angekündigten Artikel wird er sicher weitergeführt. Bin da wirklich mal gespannt.

    1. Herr Jungeleit, als Betreiber dieses Blogs behalte ich mir vor, in dieser Sache erst einmal das letzte Wort zu haben.

      So begann Ihr Eingangskommentar:

      „Schade, selbst hier (wirklich gute Artikel) wird der Mythos eines NATO-Krieges gegen Jugoslawien gepflegt.“

      An dieser Stelle überlegte ich, ob ich Ihren Kommentar freischalten soll, denn nur dieser eine Satz ist hoch manipulativ. Er beginnt mit einem dezenten Lob, um dann die Botschaft unterzubringen.
      Der „Mythos eines NATO-Krieges gegen Jugoslawien“ war bittere Realität, die Toten, Verletzten, Traumatisierten, die Zerstörung von Infrastruktur und darunter leidet das Land bis heute.
      Dieser Krieg gegen JUGOSLAWIEN war ein Angriffskrieg und somit durch nichts zu rechtfertigen. Daher ist dieser, Ihr erster Satz – ungewollt oder nicht – der blanke Zynismus. Dieser Krieg war ein Völkerrechtsverbrechen und kein Mandat als das der NATO selbst hat ihn legitimiert. Es ist bezeichnend, wie in Ihrem Hinterkopf die Rechtfertigung flüstert, dass das zwar stimmt, aber Milosevic war ja ein Diktator, Verführer und Verschwender – und deshalb könnte man ja „humanitär intervenieren“.

      Ihre Feindbild-Sprache – alles aus Ihren Texten zitiert: „Milosevic-Clan“ (das immer wieder), „Die Serben forderten frech die Rechtsnachfolge“ (nachdem die UNO Jugoslawien auflöste), „Trotz der Kriegsverbrechen der Serben gegen die Kroaten“ (böse gegen gut, so ist ja Krieg immer), „Sie (die NATO) griffen Serbien an und beendeten diesmal die Herrschaft eines gewalttätigen Extremisten-Clans“ (die Guten griffen mit humanitärem Mandat gegen das Böse ein).

      So läuft das mit Feindbildern und das nehme ich Ihnen schon übel.

      Schauen Sie nach Syrien, Nordkorea, damals Libyen, jetzt Venezuela – immer das gleiche Spiel und immer die gleichen Narrative. So etwas lasse ich hier auf dem Blog nicht umkommentiert stehen, denn es ist kriegstreibend.

      Vor diesem Kriegsverbrechen der NATO hat man das gestutzte Rest-JUGOSLAWIEN mit Sanktionen – angetrieben aus Washington – mürbe gemacht. Was tut man in Venezuela heute, was tat man in Chile bis 1973, was geschieht in Syrien? Es ist doch immer das gleiche Muster.

      Übrigens: Seit wann bestimmt die UNO über die Auflösung von Staaten – zum Beispiel Jugoslawiens?

      Milosevic hat von Tito, einer absoluten Integrationsfigur, das schwere Erbe übernommen, die Einheit Jugoslawiens zu bewahren. Das wurde von westlichen Staaten systematisch unterminiert – schon in den 1980er Jahren. Man hat Jugoslawien und dann Serbien wirtschaftlich ruiniert und höhnt jetzt, dass sie am „Tropf Russlands“ hängen. Das ist schon ziemlich untere Schublade. Eben, die Verbundenheit der Serben zu Russland, das kotzt einige Wertedemokraten im Westen so richtig an.

      Dass Ihre Feindbildprojektion so durchschlägt, ist schade, weil die Diskussion zu den politisch-wirtschaftlichen Gründen des Jugoslawien-Krieges – wohlgemerkt an der geeigneten Stelle – dem Leser einiges bringen könnte. Den hier fand ich lustig:

      „Bereits 2005 rief die Weltbank wieder auf, in Serbien zu investieren. Weil angeblich kein Land auf dem Balkan dafür besser geeignet wäre.“

      Ach guck? Nachdem man durch einen friedlichen Volksaufstand mit der spontanen Graswurzelbewegung Otpor! den Diktator stürzte? Oder nachdem man, mit Mitteln von Gene Sharp und dem Geld von NED und Soros einen Regime-Wechsel orchestrierte? Nehmen wir beruhigt die zweite Variante. Danach gab es eine westlich hörige Regierung in Belgrad und ei der daus, floss Geld von der Weltbank. Vielleicht nicht ganz unwichtig, dass diese neue Regierung zuvor noch den ehemaligen Präsidenten auf Betreiben der USA an den UN-Gerichtshof in Den Haag auslieferte – denselben, den die USA sonst gar nicht anerkennen, vor allem für ihren eigenen Dreck.

      Sie erwähnten als Quelle des Zitats PwC (PricewaterhouseCoopers), was ich irgendwie erheiternd finde. Dieser Laden hat bei so einigen Transformationen seine Finger im Spiel gehabt. Er steht hinter dem „Wunder“ russischer Milliardäre wie Chodorkowski und hat ähnliche Expertisen wie zu Jugoslawien zu dem anderen südlichen Land erstellt (das ich im Vorkommentar andeutete, ich meinte Griechenland). PwC ist alles, aber nicht unabhängig, er ist Dienstleister großer Konzerne und Finanzinstitute, um die Rendite zu optimieren und nichts aber auch gar nichts außerdem. Das ganze Gesülze von PwC ist nichts weiter als Prosa, um die wahre Funktion zu verdecken.

      Die Frage, warum Jugoslawien seine Schulden nicht bedienen konnte, mit „Planwirtschaft“ zu beantworten, ist ganz schön platt. Wäre es so einfach zu beantworten, hätte ich Sie nicht nach den IWF-Weltbank-Mechanismen gefragt. Ohne einer Planwirtschaft in irgendeiner Weise das Wort zu reden (ich kenne sie aus eigenem Erleben): Schauen Sie mal, wie viele Staaten dieser Welt bis heute das gleiche Schicksal ereilte, wenn sie sich auf IWF-Kredite eingelassen hatten – und die allesamt KEINE Planwirtschaft betrieben. Ich hoffe wirklich nicht, dass Sie zu denen gehören, die meinen, dass es dann, zum Beispiel bei den Griechen, daran liegt, dass sie faul und korrupt sind.

      Aber nichts für ungut. Ihre Auslassungen zu den politisch-ökonomischen Prozessen damals und heute werden eine Rolle im angekündigten Text finden.

      Freundliche Grüße, Ped

  3. Mehr davon, lieber Ped. Die Texte stimmen mich positiv.
    Eine Frage: Gibt es eine chronologische Liste der Artikel?
    Grüße, Franz


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    VG, Ped

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