Eine Geschichte, die mittlerweile viele Menschen als alte Geschichte begreifen.


Aber die Geschichte ist nicht zu wirklich zu Ende. Sie läuft uns nach und wird uns einholen, wenn wir vergessen, wie sie sich abspielte und warum sie sich abspielte. Genauer hingesehen, hat diese Geschichte nie aufgehört. Nur ist sie subtiler und versteckter geworden. Das was diese Geschichte an Düsternis und Beklemmung beschreibt, wartet darauf, wieder in den Vordergrund zu treten. Weil wir es in uns tragen — und uns oft dessen nicht bewusst sind. Es ist eine Geschichte, die uns auffordert offenzulegen, was uns tatsächlich wichtig und wertvoll ist. Eine Geschichte die uns nach unserer wahren Empathie, Nächstenliebe, Achtsamkeit und unseren Mut befragt.


Krisenjahre heißt ein Büchlein, welches Vera Frey (a1) geschrieben und in kleiner, gedruckter Auflage an vertraute Menschen verteilt hat. Sie hat ihrem Werk diesen Text vorangestellt:

Für die kritischen Denker

Für die Verstoßenen

Für die, die für die Freheit kämpfen

Für die, die bereit waren, aufzuwachen

Für die, die menschlich geblieben sind

Für Euch

Mögen diese Worte und der folgende Text jedem Leser Mut, Wärme und ein Gefühl von Achtsamkeit schenken.

Eine kurze Geschichte

von Vera Frey, 2023 (a1)

6 Stunden, 48 Minuten und 12 Sekunden. So lange hatte Gregor in dieser Nacht geschlafen. Als er aufwachte, war es ein Morgen wie jeder andere. Nur war alles anders.

Gregor lief ins Bad und schaute in den Spiegel, der wie jeden Morgen vom aktuellen Tagesgeschehen berichtete. Er sah grauenvolle Bilder an diesem Morgen.

Das für sich wäre nichts Ungewöhnliches gewesen, aber heute gab es etwas Neues. Ein Krankheit. Sie war unsichtbar, aber sehr gefährlich. Gregor beobachtete, wie Särge aus Gebäuden getragen wurden. Die Krankheit war weit entfernt. Aber sie kam näher.

Wer betroffen war, würde gänzlich verrückt werden. Er würde nicht mehr in der Lage sein, das Gesicht eines Menschen zu erkennen. Nichts würde er von dem Gesicht eines jeden der ihm gegenübersteht, wahrnehmen können, außer den Augen. Und man würde keinen vernünftigen Satz mehr herausbringen können. Ja noch schlimmer, man würde Dinge sehen, die gar nicht existierten. Man würde langsam dieser Welt entgleiten.

Gregor ging wie jeden Morgen zur Arbeit. Er war ein guter Bürger und tat sein Bestes, um dieses Land voranzubringen. Er liebte seine Arbeit, denn sie erfüllte ihn.

Aber heute war etwas anders. Heute lagen unbekannte Formulare auf seinem Schreibtisch. Der Schreibtisch quoll über mit Bergen von Papier.

Gregor sah auf zu seinem Kollegen, der eben vor seinen Schreibtisch getreten war. Und Gregor öffnete den Mund, um etwas zu sagen und schloss ihn gleich wieder. Denn das Gesicht des Kollegen war gänzlich nicht mehr zu sehen, nichts konnte er mehr davon erkennen, nichts mit Ausnahme der Augen.

Der Kollege nickte Gregor zu und wandte sich zum Gehen. Halt! Rief Gregor. Woher kommt das Papier? Das gehört hier nicht her. Doch sein Kollege fragte bloß — Gregor, welches Papier? Und er ging.

Der Tag verstrich und als Gregor am Abend all dem Papier Herr geworden war, ging er nach Hause. Er hatte sonst nichts getan, aber er fühlte sich furchtbar ausgelaugt. Am Abend schaute er erneut in den Spiegel. Aber nach jedem Bild, dass er sehen konnte, riss die Darstellung, und er sah etwas anderes. Und überhaupt, seine ganze Wohnung schien Risse bekommen zu haben. Überall klafften die Wände auseinander und der Boden wankte. Gregor ging zu Bett. Er schlief 6 Stunden, 54 Minuten und 8 Sekunden.

Am nächsten Morgen bemühte sich Gregor, bloß nicht in den Spiegel zu sehen, denn die wechselnden und wankenden Bilder machten ihm Angst. Der ganze Weg zu seiner Arbeit blieb jedoch ruhig und friedlich wie immer.

Auf der Arbeit wurden heute Pillen ausgeteilt. Sie seien zur Vorbeugung gegen die unbekannte Krankheit. Und man müsse sie bloß einmal in der Woche nehmen und sei geschützt.

Gregor wich von einem gesichtslosen Kollegen zurück, der ihm die Pillen hinhielt. Gregor, du bist verrückt, rief dieser. Gregor, damit bist du geschützt! Doch Gregor schüttelte den Kopf.

Beim Mittagessen wurde über Gregor getuschelt. Er sei der einzige gewesen, der keine Pille genommen hatte.

Neben Gregor saß sein bester Freund. Sein einziger Freund. Für Gregor war er der wichtigste Mensch auf Erden. Hast du etwa auch eine Pille genommen, fragte Gregor seinen Freund. Dieser nickte langsam. Ich war ja auch erst unsicher. Aber ich habe Angst, krank zu werden, antwortete er. Und Gregor konnte nicht sagen warum, aber ihn überkam mit einem Mal riesige Angst um seinen besten, einzigen Freund. Hör zu, nimm sie nicht nochmal! Ich bitte Dich!

Gregor blickte seinen Freund an. Doch dieser erwiderte diesen mit Ekel, ja Abscheu. Und er stand auf und verließ den Tisch, an dem sie gesessen hatten. Fortan redete sein bester Freund kein Wort mehr mit Gregor.

4 Wochen, 3 Tage und 17 Minuten nach dieser Unterhaltung starb sein Freund. Und Gregor weinte bitterlich. Er weinte 7 Tage und 8 Nächte und dann blieb nur dunkle Leere zurück. Er durfte jetzt auch nicht mehr zur Arbeit kommen. Niemand durfte das, der Pillen verweigerte zu schlucken.

Gregor ging spazieren. Auf der Straße saß ein Mann. Völlig allein. Er schien Hilfe zu brauchen. Gregor ging auf den Mann zu und legte seine Hand auf dessen Schulter. Der Mann sprach eine fremde Sprache, aber Gregor verstand sie trotzdem.

Plötzlich kam wie aus dem Nichts eine Frau auf Gregor zu und stieß ihn von dem Mann weg. Sehen sie nicht, schrie die Frau, sehen sie nicht?! Gregor blickte in ihr Gesicht und sah nichts als ihre Augen. Sie dürfen den Mann nicht anfassen! Er ist falsch.

Gregor verstand nicht. Wieso ist er falsch? Doch die Frau hielt ihm nur eine Pille hin. Sie sind verrückt, sagte sie. Gregor schüttelte den Kopf. Ich bin nicht verrückt, ihr seid’s. Und er umarmte den Mann auf der Straße und dieser umarmte ihn ebenfalls. In Gregor begann sich alles zu drehen, und die Welt um ihn flackerte.

Morgen durfte er wieder zur Arbeit gehen. Alle durften es jetzt. Und alle mussten.

Nach einer Schlafdauer von 9 Stunden, 18 Minuten und 4 Sekunden beschloss Gregor, den Spiegel mit einem Handtuch zu verdecken. So sah er keine Bilder mehr darin. Auf der Arbeit bekamen einige Mitarbeiter jetzt kein Gehalt mehr, weil es Falsche waren. Ein Falscher war man, wenn man die falsche Sprache sprach, hörte Gregor. Man durfte mit den Falschen auch keine Projekte mehr bearbeiten. Gregor war deshalb sehr wütend und er ging zu seinem Chef.

Sein Chef hielt ihn für krank und hielt ihm eine Pille hin. Er lächelte sanft, als Gregor ihn anschrie. Sehen Sie, sagte der Chef, sehen Sie, Gregor. Es ist besser für uns alle. Es geht hier um das höhere Wohl. Die Falschen werden von einem Diktator regiert. Und wir müssen etwas gegen den Diktator tun. Und er hielt Gregor die Pille hin. Gregor war wütend. Ich bin nicht verrückt, ihr seid’s, rief er.

Auf der Arbeit wurden die Pillen jetzt jeden Tag ausgeteilt, um vor Krankheit zu schützen. Man müsste sie zweimal am Tag nehmen, um geschützt zu sein. Und alle nahmen sie. Sechs Kollegen waren krankgeschrieben. Sind ihnen die Pillen nicht bekommen, fragte Gregor scherzhaft jemanden, der am Tisch neben ihm saß. Dieser riss die Augen auf und wandte sich von Gregor ab.

Gregor sah jetzt nicht nur das Wanken seiner Umgebung. Er sah neue Dinge. Er sah, dass die Falschen nur Menschen waren wie er selbst. Er sah auf der Brust von einigen Menschen rote Lichter aufblinken, und er erkannte, dass diese Menschen ihm nichts Gutes wollten.

Und Gregor sah, dass einige Menschen von den Pillen ganz krank wurden. Aber dafür waren sie zur Gänze glücklich und schienen Dinge nicht zu sehen, die Gregor sehen konnte. Sie sahen nicht, dass an Falschen nichts falsch war.

Sie schluckten weiter Pillen und hielten Abstand von Gregor. Niemand kam näher als einen Meter und fünfzig Zentimeter an ihn heran. Und machte Gregor einen Schritt auf ihn zu, wich er einen Schritt zurück. Und er rief, du bist verrückt und hielt Gregor Pillen hin. Und Gregor rief, ich bin nicht verrrückt, ihr seid’s! Die Menschen waren kalt. Jedes Wort ließ die Raumtemperatur sinken. Und Gregor fror.

Das Wanken und Flackern in Gregors Gesichtsfeld hatte jetzt aufgehört. Es war wieder alles klar. Fast alles. Manchmal schwankte die Welt noch immer. Das Handtuch in Gregors Bad war vom Spiegel gefallen. Der Spiegel hatte los geplärrt und ihm Bilder von Verrückten gezeigt, die durch Pillen endlich geheilt wurden. Andernfalls würden die Verrückten sterben. Daraufhin hatte Gregor den Spiegel eingetreten und er war in tausend Teile zersplittert.

5 Monate, 8 Tage und 4 Stunden später starb die Welt. Sie zerriss und heraus quollen Tonnen von Spielgeld, Berge von Formularen, und Lügen quollen heraus, so viele Lügen, dass 68 Frauen und 72 Männer an den Lügen starben. Die Kinder die daran starben, wurden nicht gezählt. Einige Menschen wollten nichts davon hören und hielten sich Ohren und Augen zu. Andere erstarrten gänzlich zu Stein und rührten sich nicht mehr.

Gregor wusste nicht, wie lange er in dieser Nacht geschlafen hatte. Es war auch egal. Gregor ging nicht mehr zur Arbeit, denn es gab sie nicht mehr.

Er hatte Freundschaft geschlossen. Es war ein Falscher, an dem ganz und gar alles richtig war. Beide lernten die Sprache des anderen, doch die brauchten sie eigentlich nicht, um sich zu verstehen. Denn sie hatten beide niemals Pillen genommen und hatten deshalb wohl dieselbe Krankheit.

Aber Gregor konnte das Gesicht des Anderen gänzlich sehen, die Augen, die Nase, den Mund. Er hieß Max. Sie hatten einen neuen Spiegel ins Bad gehängt, aber dieser zeigte keine Bilder, nur Buchstaben. Man musste sie lesen. Und sie ergaben gute Worte.

Manchmal taten die Worte sehr weh, aber sie sprachen nichts als die Wahrheit und deshalb war es gut so. Diese Worte konnte ein jeder schreiben, der schreiben wollte. Auch Gregor schrieb ein paar mal.

Und man konnte sich selbst im Spiegel sehen. Gregor und sein bester Freund prüften jeden Abend ihr Spiegelbild, und das machte sie zufrieden. Und Gregors bester Freund hielt auch keinen Abstand zu ihm. Sie umarmten sich so oft sie wollten, was Gregor sehr glücklich machte.

Einmal war Gregor sehr krank, und sein bester Freund pflegte ihn so gut er konnte. Gregor wurde bald wieder gesund.

Die Welt wankte und flackerte jetzt kein bisschen mehr. Aber Gregor hätte auch keine Angst gehabt, wenn sie wieder anfangen würde zu wanken. Denn er war vorbereitet.

Vielen Dank an Vera Frey, bitte bleiben Sie achtsam, liebe Leser.


Anmerkungen und Quellen

(Anmerkungen) @2023 Vera Frey. Alle Rechte, auch des auszugsweisen Nachdruckes, der auszugsweisen oder vollständigen Wiedergabe, der Speicherung und der Übersetzung sind der Verfasserin vorbehalten.

(a1) Vera Frey ist ein Pseudonym. Die Autorin ist nicht mit dem Betreiber der Plattform Peds Ansichten verwandt. Bitte beachten Sie, dass dieser Text nicht unter die Creative Commons License fällt (siehe die Anmerkungen). Bei Interesse an einer Republizierung auf anderen Plattformen setzen Sie sich bitte mit Peds Ansichten in Verbindung.

(Titelbild) Jungen, Sprung, Mut, Beispiel, Vorbild; Autor: cocoparisienne (Pixabay); 12.10.2017; https://pixabay.com/photos/boys-people-sea-young-leap-rock-2845441/; Lizenz: Pixabay License

Von Ped

3 Gedanken zu „Eine Geschichte aus dem Land der neuen Normalität“
  1. Sehr geehrter Ped,
    eine wirklich schöne Geschichte mit klaren Bildern, wenn auch ein klein wenig Bitteres enthalten ist.
    Gratulation an Frau Vera Frey zu ihrem Werk.
    Liebe Grüße
    David Bommert

  2. Nett, erinnert mich an Kafkas Buch „Der Prozess“, nur das diese Geschichte ein Happy End hat. Glücklicherweise ist die Geschichte ja frei erfunden, sowas kann in einer Demokratie nicht passieren, die Menschen haben ja aus der dunkeldeutschen Vergangenheit gelernt.

  3. Gut geschrieben. Gefällt mir. (Was mir nicht gefällt, ist, daß dieser Satz, leider, auch verbrannt ist.)
    .
    Meine Komplimente an die Autorin und an Ped Dank für die Veröffentlichung.

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