Vom Verlust des schönen Scheins.


Seit dem Antritt der US-Präsidentschaft von Donald Trump bedauert der noch immer über Jahrzehnte gewachsene und eng mit den traditionellen Eliten in Übersee verwobene Mainstream den Verlust der Werte, die doch der ganzen Welt so viel Gutes, vor allem Frieden und Stabilität gebracht hätten. Größer kann ein Betrug kaum sein, aber es ist eben auch und zuerst ein Selbstbetrug.


In diesem transatlantischen Netzwerk fühlte sich der nun ehemalige französische Botschafter in den USA, Gérard Araud gut aufgehoben. Zuvor bekleidete er hohe Positionen im französischen Außenministerium, bei der NATO und den Vereinten Nationen. Zudem diente er als Botschafter in Israel. Araud wandelte mittels Drehtüreffekt in geradezu klassischer Art und Weise zwischen den verschiedenen Schaltstellen der Macht. Er ist ein Transatlantiker wie er im Buche steht.

Im April 2019 gab er Foreign Policy ein Interview, das tief blicken lässt. Seiner Meinung nach ist die gute alte Zeit des Freihandels, für ihn gleichbedeutend mit dem ultimativ besten und somit alternativlosen System des Neoliberalismus, mit der Regierung des Donald Trump zu Ende gegangen.

„What for me was striking was realizing that I had started my career more or less when Ronald Reagan was elected and I was completing my career when Trump was elected. And suddenly I realized by chance my career nearly exactly fit a particular period in history – a period that I’m convinced is over. I’m really convinced the direction of Trump is a signal that 40 years of what people call neoliberalism is over. This period where everybody was convinced that free trade was good, the market good, taxes were bad, and state intervention was bad, and suddenly with the election of Trump but also with Brexit and the populist wave in the Western countries, including France, the signal is that some of our citizens are saying, «No way, it’s over.» Nearly overnight all the certainties of my diplomatic life were shattered. You had an American president saying suddenly that the EU is a threat, that NATO is dangerous. That for me was the stepping stone of my memoirs.“ (1)

Sinngemäß übersetzt durch Peds Ansichten:

„Die für mich eindrücklichste Erkenntnis ist die, dass ich meine Karriere mehr oder weniger in der Zeit begonnen hatte, als Ronald Reagan gewählt wurde, und ich beendete meine Laufbahn, als Trump gewählt wurde. Und mit einem Male wurde mir bewusst, dass meine Karriere fast genau in eine bestimmte Epoche der Geschichte passte – eine Epoche, von der ich überzeugt bin, dass sie vorbei ist. Ich bin tatsächlich davon überzeugt, dass die Richtung von Trump ein Signal ist, dass 40 Jahre dessen, was man Neoliberalismus nennt, zu Ende ist. In dieser Zeit, in der alle davon überzeugt waren, dass der Freihandel gut, der Markt gut, die Steuern schlecht und die staatliche Intervention schlecht ist, und plötzlich mit der Wahl von Trump, aber auch mit dem Brexit und der populistischen Welle in den westlichen Ländern, einschließlich Frankreich, ist das Signal, dass einige unserer Bürger sagen: «Kein so weiter, es ist vorbei». Fast über Nacht wurden alle Gewissheiten meines diplomatischen Lebens zunichte gemacht. Sie haben jetzt einen [US-]amerikanischen Präsidenten, der plötzlich sagte, dass die EU eine Bedrohung sei, dass die NATO gefährlich sei. Das ist in meinem Rückblick das entscheidende Element.“

Natürlich hat ein Donald Trump den Neoliberalismus nicht begraben. Aber er hat – gewollt oder nicht – etwas anderes, sehr wichtiges getan. Er hat dem Neoliberalismus die Maske heruntergerissen. Er hat den Freihandel als lügenden Begriff enttarnt, der nichts weiter ist als aggressiver, gelebter, räuberischer Kapitalismus, in dem nur der Stärkere sich rücksichtslos die Freiheit nehmen darf, den maximalen, eigenen Vorteil durchzusetzen. DAS nimmt ihm der französische Diplomat übel, nicht das Tagesgeschäft, das Trump ganz im Sinne seines präsidialen Vorgängers einfach nur fortsetzt.

So kommt mir Gérard Araud irgendwie vor, wie einer von Platons Sklaven in dessen Höhlengleichnis. Mit Barack Obama, der mit gepflegten Manieren, aber mit brutaler Konsequenz die Interessen des Imperiums auch nicht anders vertrat, als wiederum dessen Vorgänger George W. Bush, war für den Franzosen die Welt in Ordnung. Der schöne Schein war auch seiner, Arauds Selbstgerechtigkeit dienlich, die ihn den Neoliberalismus, den „Freihandel“ als eine für alle Beteiligten feine Sache ansehen ließ.

Zu einer Ideologie, welche sich überhöht, um dominant zu werden, gehört auch zwingend der Selbstbetrug der mit ihr verhafteten und nach ihren Prinzipien handelnden Akteure. Diese schöne Illusion reißt der US-Präsident Donald Trump regelmäßig hemdsärmlich und ohne Rücksicht auf die Etikette einfach ein. So kann plötzlich allen das wahre hässliche Gesicht des Systems, in dem wir leben und das wir bedienen, klar werden. Schon immer war allerdings dann der Botschafter der schlechten Nachricht auch der Buhmann.

Das zeigt einmal mehr, dass von einer Ideologie – der Neoliberalismus ist eine Ideologie – vereinnahmte Teilnehmer im System der Macht tatsächlich auch von der fortwährenden, die Realität fälschenden Propaganda, die sie verbreiten, tatsächlich selbst überzeugt sind. Diese subjektiv gelebte Überzeugung reinigt das eigene Gewissen. Doch dem nicht verstrickten, äußeren Betrachter offenbart sich rasch die dahinterstehende Doppelmoral. Das führt im allgemeinen rasch dazu, seinerseits solche Menschen als Feindbild wahrzunehmen, was allerdings deren Überzeugung eher bestätigt, als es sie einreißt.

Den Verlust der Illusion eines sich einfach immer so weiter drehenden, gut geschmierten Räderwerks der Diplomatie im Dienste der neoliberalen Werte beschreibt Araud so:

„And suddenly you have this president who is an extrovert, really a big mouth, who reads basically nothing or nearly nothing, with the interagency process totally broken and decisions taken from the hip basically. And also, for an ambassador, you had a normal working administration with Obama. People in the executive branch offices were able to explain to you what the president was thinking or what the president was going to do.“

Sinngemäße Übersetzung durch Peds Ansichten:

„Und plötzlich ist da ein Präsident, extrovertiert, mit einem wirklich großen Mundwerk, der grundsätzlich nichts oder fast nichts liest, mit einem totalen Bruch des gewohnten Austauschs zwischen den Behörden und im Grunde aus dem Bauch heraus gefällten Entscheidungen. Dagegen konnten sie mit der Administration von Obama ganz normal arbeiten. Die Leute in den Geschäftsstellen waren imstande, Ihnen zu erläutern, was der Präsident dachte, beziehungsweise was er zu tun beabsichtigte.“

Oh ja, das muss weh tun, so es dem Betroffenen plötzlich klar wird, dass die wie für die Ewigkeit geschaffenen Netzwerke etablierter Macht auf einmal in der Luft hängen. Araud hatte eine klare Aufgabe in diesem Netzwerk, die er über Jahre treu ergeben und mit innerer Überzeugung umsetzen konnte. Doch das so oft Bewährte funktionierte nun plötzlich nicht mehr.

Was Gérard Araud durch die eingeschränkte Sicht seiner ideologischen Brille nicht verstanden hat, ist, dass hinter dieser Arbeitsweise Trumps und seiner Strippenzieher eine Systematik steckt, die auch sehr bewusst auf Leute wie eben Araud zielt. Macht ist gierig und Macht konkurriert ohne Skrupel. Als Trump Präsident wurde, wechselte ja nicht der bisherige Apparat. Der bisherige Apparat hatte schon vor und mit Beginn der Präsidentschaft Trumps eine klare Aufgabe: den Mann zu domestizieren oder ihn vom Amt zu entfernen, egal wie. Darauf war Trump vorbereitet. Er wusste, dass er sich in einem Haifischbecken würde behaupten müssen.

Daher meine ich, dass Leute wie Araud keinesfalls dumm sind, ganz im Gegenteil. Doch ebenso sind sie auch beschränkt. Das ist wie mit Wissenschaftlern, hochgebildeten, klugen Leuten. Verbinden sie ihre Arbeit mit einem ideologisch untermauerten Anspruch, schränkt sich ihre Fähigkeit, verschiedene Sichten einzunehmen, umgehend ein. So ist das auch mit Araud. Er begreift nicht wirklich, was da geschieht. Er ist ein ideologisch gefestigter „Guter“ und kann dadurch nicht von außen den Machtkampf betrachten, in den er in seiner Rolle ja selbst mit verwickelt ist.

Einem französischen Spitzendiplomaten kommt nicht in den Sinn, dass Trump ständig lavieren muss, um nicht unterzugehen. Das zeigt sich auch in der US-amerikanischen Außenpolitik und da ganz speziell in Syrien. Wie ist die Wahrnehmung von Gérard Araud?

„The problem of Syria is the problem of the way the president has been working. First the president says—to the total surprise of everybody including the secretary of defense, who resigned after that, and the Joint Chiefs of Staff chairman—that the Americans are withdrawing. Then these administration officials don’t try to push the president to change his mind, but they go through modalities to change his policy, beginning with what number of U.S. troops will remain. But to be able to bargain for that, they need to be able to say to the president, “Oh, the French are going to double their contribution.” Which doesn’t make sense because on the French side we say, “We’re really sorry. We can’t tell you how many soldiers we’ll have if we don’t know how many soldiers you’re going to put in.” It’s chicken and egg. So basically we are used for the only negotiation that matters—which is the negotiation between the Defense Department and Trump.“

Sinngemäße Übersetzung von Peds Ansichten:

„Das Problem im Falle Syrien liegt in der Vorgehensweise des Präsidenten. Zuerst sagt der Präsident – zur totalen Überraschung aller, einschließlich des Verteidigungsministers, der danach zurückgetreten ist, und des Generalstabschefs – dass die Amerikaner sich zurückziehen. Dann versuchen diese Regierungsbeamten zwar nicht, den Präsidenten zu drängen, seine Meinung zu ändern, testen aber verschiedene Möglichkeiten, um seine Politik zu modifizieren, beginnend damit, welche Zahl von US-Truppen bleiben sollen. Aber um das zu bestimmen, müssen sie dem Präsidenten sagen können: «Oh, die Franzosen werden ihren Anteil [an Soldaten] verdoppeln.« Das macht keinen Sinn, denn auf der französischen Seite sagen wir: «Es tut uns wirklich leid. Wir können euch nicht sagen, wie viele Soldaten wir einsetzen, wenn wir nicht wissen, wie viele Soldaten ihr einsetzen werdet.« Es ist wie beim Henne-Ei-Prinzip. Im Grunde genommen werden wir benutzt – nämlich im Schlagabtausch zwischen dem Verteidigungsministerium und Trump.“

Als Trump bekannt gab, alle Soldaten aus Syrien abzuziehen, blökte der gesamte Mainstream – und zwar wirklich alle, durch die Bank. Eine Gleichschaltung erster Güte auch der doch so „freien“ Medien. Man beschwerte sich über die Risiken eines Rückzuges und das damit dem Terrorismus neue Gelegenheit gegeben würde, sich wieder zu organisieren. Nicht eine der großen Gazetten, nicht einer der westlichen Spitzenpolitiker trat hervor und sagte: „Wie auch immer, aber sich auf das Völkerrecht zu besinnen und die völkerrechtswidrige Präsenz von eigenen Militärs in einem anderen UN-Mitgliedsstaat zu beenden, kann man ja wenigstens mal sachlich diskutieren.“.

Es ging nicht einmal darum, Trump für diesen politischen Vorstoß zu loben, sondern einfach nur um eine Anerkennung und offene, wie differenzierte und damit auch versachlichende Betrachtung. Aber da war absolut nichts, auch nichts von Araud. Das komplette transatlantische Netzwerk zog alle propagandistischen Register, um ein weiteres Mal Trump dafür als Verrückten abzuqualifizieren. Und nun wundert sich ein Gérard Araud über die „Unberechenbarkeit“ des US-Präsidenten. So ist das, wenn man in der eigenen Filterblase schwebt.


Wie kann es sein, dass in einer angeblich pluralistischen Gesellschaft der Mainstream mit einer einzigen Stimme spricht und diese auch noch als moralisch alternativlos postuliert? So wir uns dem beständig unterordnen, rutschen wir sanft aber bestimmt in den Faschismus. Denn den zeichnet eben das aus: Die einzig wahre, die und nur die eine akzeptierte Stimme.


Araud kam überhaupt nicht in den Sinn, dass der vollständige Rückzug westlicher Militärs aus Syrien eine gangbare, wenigstens zu diskutierende Alternative sein könnte. Er war sofort – auch innerlich überzeugt – in die Strategie involviert, Trumps Entscheidung aufzuweichen und zu hintertreiben. Er war direkt in die internen Machtkämpfe im Weißen Haus eingebunden, ohne das tatsächlich zu erfassen. Und so kann er auch Trumps Taktik bis heute kaum fassen. Wenn man den anderen durch die eigene ideologische Beschränkung nicht versteht, ist es natürlich am Einfachsten, jenen zum Verrückten zu erklären.

Denn was der Leser hier auch sehen kann: Frankreich führt Krieg in und gegen Syrien, mit der gleichen Selbstverständlichkeit wie die US-Amerikaner. Diese eigene Rolle wird gar nicht hinterfragt. Syrien ist dabei nur eines von vielen Beispielen. Das groß angelegte Projekt einer „Transformation“ dieses Landes wird – ungeachtet der veränderten Rahmenbedingungen – einfach weitergeführt. Der Krieg wird weitergeführt, nicht vom „unberechenbaren“ Trump, sondern – was Syrien betrifft – von seinen Opponenten.

So echauffiert sich dann Araud in seinen Memoiren darüber, dass man – ob Trumps Gebaren – nicht weiß, wie viele französische Soldaten man in Syrien stationieren soll. Dabei ist die Antwort ganz einfach: GAR KEINE. Die französische Politik möchte so gern ihre eigene Großmachtpolitik ausbauen und dienert gleichzeitig furchtsam vor Washington. Ein Vasall, der auf seine Chance lauert. Das hat etwas Erbärmliches wie Gefährliches an sich. Trump aber treibt den Preis für die „Partner“ der Washingtoner Kriegsmaschine immer weiter nach oben. Damit untergräbt er die Akzeptanz dieser Politik. Er serviert auf diese Weise immer offener das Angebot für die „Partner“ und das heißt: Aussteigen.

Bitte bleiben Sie schön aufmerksam.


Anmerkungen und Quellen

(Allgemein) Dieser Artikel von Peds Ansichten ist unter einer Creative Commons-Lizenz (Namensnennung – Nicht kommerziell – Keine Bearbeitungen 4.0 International) lizenziert. Unter Einhaltung der Lizenzbedingungen kann er gern weiterverbreitet und vervielfältigt werden.

(alle Zitate) 19.4.2019; https://foreignpolicy.com/2019/04/19/how-trump-practices-escalation-dominance/

(Titelbild) Wasser, Blase, Luftblase; Alexas_Fotos (Pixabay); 25.2.2019; https://pixabay.com/de/photos/wasseroberfläche-luftblasen-wasser-4019748/; Lizenz: Pixabay License

Von Ped

3 Gedanken zu „Filterblase eines Diplomaten“
  1. „… tatsächlich auch von der fortwährenden, die Realität fälschenden Propaganda, die sie verbreiten, tatsächlich selbst überzeugt sind“
    Ist meine Rede immer schon gewesen. Jede Ideologie, egal ob Neoliberalismus, Marxismus, Faschismus, sonstwas, auch jede Religion, besonders die monotheistischen, ist ab einem bestimmten Maß an Verinnerlichung tragend für eine selbstbestätigende Empfindungsschraube, die eigene Sichtweise der Welt sei die einzig richtige, und nur so wird eigenes Verhalten und das Anderer gesehen. Die glauben wirklich an das, was sie sagen undsind zutiefst überzaugt, das sei richtig. Diskussionen unmöglich, Vernunft nur einseitig im Sinne eigener Ideologiebestätigung benutzend.
    Was im Übrigen zwangsläufig dazu führt, dass jede Ideologie ab einem bestimmten Punkt von Verinnerlichung gleichzeitig auch faschistisch ist, weil man nur sich und seinesgleichen als „die Wahren“, „die Richtigen“, etc. betrachtet, also alle anderen „minderwertig“ sind, bestenfalls „bekehrt“ oder „umerzogen“ werden müssen, und wenn das nicht geht, halt eingekerkert oder getötet..

  2. Bei Actvism gibt es gerade ein zweiteiliges Interview von Zain Raza mit Rainer Maisfeld. Im ersten Teil »Anarchismus, Wikileaks, Prinzipien der Demokratie und die Rolle der Wirtschaft« erklärt Rainer Mausfeld wie Anarchismus, Totalitarismus und eben Faschismus zusammenhängen und wie der Zustand unserer Demokratie vor diesem gedanklichen Hintergrund zu werten ist. Er fokussiert dabei auf die Frage, wo im System die Macht steckt bzw. wo sie sich versteckt. Ich finde das Interview seht erhellend.

  3. Sehr schön in diesem Zusammenhang ein Artikel von Caitlin Johnstone freundlicherweise übersetzt von FritztheCat:

    „Donald Trump ist der ehrlichste US-Präsident aller Zeiten“

    …“Trump hat alle Schlechtigkeiten seiner Vorgänger fortgesetzt und erweitert, aber er hat es offen getan, so dass es genauso hässlich und ekelhaft aussieht wie es ist. Seine Anhänger versuchen dies zu rechtfertigen, indem sie behaupten, dass er brillante 4-D-Schachmanöver gegen den Deep State macht, aber Trump spielt kein Schach. Er spielt nicht mal Dame. Er spielt Uno, und er spielt es mit Karten, die vollständig offen auf dem Tisch liegen, wobei seine einzige Verteidigung darin besteht, auf eine rote Karte zu zeigen und zu sagen: „Diese ist grün“ und auf eine Acht zu zeigen und zu sagen: „Das ist eine Zwei. Es ist die beste Zwei, eine absolut fantastische Zwei.“

    Sehr gute Ergänzung zum Artikel!
    https://www.theblogcat.de/uebersetzungen/trump-der-ehrliche-04-06-2019/

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