Geschichte wird geschrieben und beruht auf Zurückliegendem. Doch ist das dann Erzählte auch vorbestimmt gewesen?


Das ist eine eher rhetorische Frage. Andererseits hat man oft — und nicht nur bei der Betrachtung der Hitlerschen Historie — den Eindruck, dass die Dinge im Großen und Ganzen vorbestimmt gewesen wären. Insbesondere der Führerkult nimmt gern eine angebliche Magie der Persönlichkeit Hitlers als Argumentationsgrundlage für seinen politischen Aufstieg. Was zwangsläufig wegführt von der Untersuchung der tatsächlichen Ursachen für den Aufstieg des Adolf Hitler. Damit wird allerdings auch der Blick für die Tatsache verkleistert, dass die Person Hitler nicht gleichzusetzen ist mit der Rolle, die Hitler ausfüllte.


Adolf Hitler selbst spricht in „Mein Kampf“ mehrfach von Vorsehung und noch viel mehr vom Schicksal (a1). Und immer wieder sind es Episoden des Ersten Weltkrieges, die er später als richtungweisend für sein eigenes politisches Handeln beschrieb.

Er selbst war von 1914 bis 1916 zwei Jahre lang ohne Unterbrechung an der Front gewesen, bevor er wegen einer am 7. Oktober 1916 erlittenen Verwundung am Oberschenkel zur Genesung in das nahe Berlin gelegene Beelitz gebracht wurde. Im März 1917 kehrte er wieder an die Front zurück (1). Von dieser Verwundung berichtete Hitler in seinem Manifest eher beiläufig — ganz im Gegensatz zu jener Verwundung, die er kurz vor Kriegsende erlitt. Fakt ist, dass er bis dahin rein gar nichts von der Magie ausstrahlte, die ihm später von Freund und Feind zugeschrieben wurde.

Der Soldat, der nicht als Führer taugte

Hitler war sehr früh, noch im Herbst 1914, zum Gefreiten befördert worden, dann aber in vier Jahren Krieg niemals mehr in den Genuss eines höheren Dienstgrades der Kaiserlichen Armee gekommen. Dafür gibt es sicher Gründe. Diese Gründe dürften sowohl bei Hitler selbst als auch in der Wahrnehmung durch Hitlers Umfeld zu suchen sein. Der bereits erwähnte direkte Vorgesetzte Hitlers im Regiment List, Fritz Wiedemann, lobte Adolf Hitler als Soldaten. Lobte er ihn auch als Führer? Wiedemann hatte im Dritten Reich, bezogen auf Hitler, mit ihm die Rollen getauscht, war zu dessen Adjutanten geworden.

In einem der Nachfolgeprozesse der Nürnberger Prozesse, dem sogenannten Wilhelmstraßen-Prozess, wurde Wiedemann von einem der Hauptankläger, Robert Kempner, vernommen und auf Hitlers Führungsqualitäten angesprochen:

Sie sind doch im Kriege [dem Ersten Weltkrieg] der Vorgesetzte Adolf Hitlers gewesen. Können Sie uns sagen, warum er nicht zum Vorgesetzten befördert wurde?“ (2i)

Wiedemann antwortete:

„Weil wir keine entsprechenden Führereigenschaften an ihm entdecken konnten.“ (2ii)

Das wiederum erregte beim 1939 in die USA emigrierten Kempner und seinem Personal große Heiterkeit:

Also, weil er keine Führerpersönlichkeit war!“ (2iii)

Wer nicht um die wahren Gründe von Hitlers Aufstieg weiß, erkennt auch nicht, dass diese Heiterkeit ein Zeichen von Zynismus war. So doch von den politischen Eliten der Vereinigten Staaten von Amerika seinerzeit über Jahrzehnte hinweg sehr viel unternommen worden war, um Hitler als Führer aufzubauen und sodann in seiner Rolle zu hofieren und zu bestärken. Und das begann schon sehr früh. Gedulden wir uns noch etwas, bevor wir tiefer in die US-Teilhabe der „Führerwerdung“ Hitlers einsteigen.

Wiedemanns Antwort war jedenfalls ganz und gar nicht ironisch gemeint, sondern an der Realität ausgerichtet. Später sagte er im Rückblick auf diese Episode:

Was ich Kempner geantwortet hatte, traf jedoch zu. Hitler hatte damals nach militärischer Auffassung wirklich nicht das Zeug zum Vorgesetzten. Ich sehe einmal davon ab, dass er nach den Friedensbegriffen eines aktiven Offiziers keine besonders gute Figur machte; seine Haltung war nachlässig und seine Antwort, wenn man ihn fragte, alles andere als militärisch kurz.“ (2iv)

Wenn Hitler kein Psychopath war, wofür eine Menge spricht (a2), dann war er auch im Sinne von Macht in keiner Weise eine geborene Führerpersönlichkeit. Doch wurden später seine ideologischen Überzeugungen und seine charakterlichen Präferenzen erkannt und ausgenutzt, um sein Ego so weit zu formen, dass er tatsächlich in diese Rolle eines Führers (im Sinne von Macht) hineinwachsen konnte. Das geschah mit Sicherheit erst, nachdem der Erste Weltkrieg Geschichte geworden war.

Ungeachtet dessen war der Erste Weltkrieg ungeheuer prägend für Hitler. Er hatte nach außen hin sichtbar sein Leben für das Deutsche Kaiserreich eingesetzt, fühlte sich als Teil eines großen Kollektivs verdienstvoller Krieger, die durch die „Feinde des Reiches“ um den Erfolg ihrer Weltkriegsmission gebracht worden waren. Die „natürlichen“ Feinde, die angeblichen potenziellen Verheerer des Reiches, waren Hitler seit seiner Kindheit eingepflanzt worden. Das Kaiserreich, das von nicht wenigen heutigen Zeitgenossen als Sinnbild der „guten alten Zeit“ wahrgenommen wird, legte auch die Saat für Hitlers keineswegs aus dem Rahmen fallenden Überzeugungen.

Jedoch hatte Hitler bis zum Ende des Weltkrieges die in ihm schlummernden Feindbilder noch nicht ausgelebt. Das sollte sich mit der Niederlage des Deutschen Kaiserreichs ändern. Jetzt galt es auch für ihn, Schuldige an der Misere, seiner eigenen und der des angehimmelten untergegangenen Kaiserreichs, festzumachen, und nun konnten die Feindbilder abgerufen werden — zum Beispiel das „des Juden“. Die Weltkriegsniederlage Deutschlands war einer der entscheidenden Trigger, um den latenten und eher unterschwelligen Judenhass des Adolf Hitler in einen von Sendungsbewusstsein geprägten, extremen und aktiv gelebten Antisemitismus zu überführen.

Vor dem Ersten Weltkrieg war Adolf Hitler zwar bereits ideologisch stark beeinflusst. Aber sein Wesen und seine Träume waren die eines Künstlers. Nach dem Krieg war dies weitgehend verdrängt worden durch das Wesen eines Kriegers, eines traumatisierten Soldaten — aber keinesfalls dem eines Führers.

Noch einmal sei Wiedemann ausführlich zitiert. Dieser weist nebenbei darauf hin, wie sich Hitlers Jahre an und hinter der Front gleich denen von Millionen Soldaten der verschiedenen Seiten in etwa abgespielt haben werden:

Ein Jahr später lagen wir an der Somme. Unsere Regimentsbefehlsstelle war ein minierter Unterstand in Le Barque, einer vollkommen zerschossenen Ortschaft südlich Papaume. […] Zum Ausruhen und Schlafen fand sich kaum Platz. Die minierten Stollen waren zu eng, um richtige Schlafstellen einzurichten. So hockten also die Melder eng aneinandergelehnt im Gang, meist mit angezogenen Beinen, und schliefen dort todmüde trotz dieser unbequemen Lage. Es war Nacht, und ich wurde durch die Detonationen und das Stöhnen der Verwundeten aufgeschreckt.“ (2v)

Wiedemann setzte fort:

Sechs Meldegänger waren verwundet, alle an der rechten Seite. Unter ihnen war auch mein Meldegänger Hitler. Seine Verletzung erwies sich jedoch als nicht schwer, und als ich mich zu ihm niederbeugte, sagte er: »Es ist nicht so schlimm, Herr Oberleutnant, gelt, ich bleibe bei Euch, bleibe beim Regiment!« Da lag er nun, der Mann, der so gern Kunstmaler werden wollte … und hatte keinen anderen Wunsch als den, beim Regiment bleiben zu dürfen.“ (2vi)

Das ist die beklemmende Metamorphose, die der Krieg in den Menschen bewirken kann. Hitler jedenfalls war nun bereit für „Größeres — auch wenn ihm das im Unterstand an der Somme noch lange nicht bewusst geworden war. Er, als einer unter vielen anderen Traumatisierten, psychosozial Deformierten — und gleich ihm für „Größeres Geeigneten“ —, musste nur noch „entdeckt“ werden (3, 4).

Hitler krampfhaft Feigheit unterstellen zu wollen, entspringt dem Schubladendenken, nach dem unbedingt der Nachweis einer charakterlich schlechten Persönlichkeit erbracht werden müsste. Wiedemann und eine Reihe weiterer Kriegskameraden erzählten anderes, und ihre Erzählungen erscheinen — angesichts dessen, was wir bisher über Hitler erfahren haben — auch deutlich plausibler. Der, wie bereits erwähnt, zu Hitlers Gegnern übergelaufene Wiedemann betonte dann auch:

„Niemand, der ihn genauer kennt, wird Hitler Mut absprechen. Er hat sich im Felde als tapferer, besonders verlässlicher Meldegänger erwiesen, der das EK I wirklich verdient hat und auch mehrfach dazu vorgeschlagen war, bevor er es bekommen hat. Er war das Muster des unbekannten Soldaten, der still und ruhig seine Pflicht tat.“ (2vii)

Die Dolchstoßlegende (5) sowie eine brisante Mischung aus Juden- und Kommunistenhass waren als der Sprengstoff im Kopf des noch zu „entdeckenden“ künftigen „Führers“ platziert. Die nun anstehende Metamorphose zum „Führer“ leitet die vielleicht spannendsten Kapitel der Lebensgeschichte des Adolf Hitler ein und wird insbesondere ab der nächsten Folge dieser Artikelreihe tiefgehend untersucht.

Noch eine Episode, die von Fritz Wiedemann überliefert wurde, möchte hier erwähnt werden. Sie ist auch bei Hitler haften geblieben und wurde von ihm in seinen späteren Reden thematisiert. Laut Wiedemann lieferte Hitler am 17. Juli 1918 (Zweite Marneschlacht bei Reims) zwei gefangen genommene US-amerikanische Soldaten im Hauptquartier der Infanteriebrigade ab. Interessant ist, dass es sich bei den Gefangenen um Nachkommen deutscher Einwanderer handelte. In einer Rede kam Hitler mit diesen Worten darauf zurück:

„Gut gewachsene Männer, Männer unseres eigenen Blutes, die wir jahrhundertelang deportiert haben und die nun bereit waren, das Vaterland selbst in den Dreck zu ziehen.“ (6)

Unter anderem aus dieser Episode strickte Hitler bald die Argumente für seine These vom „Volk ohne Raum“, das somit ein Recht hätte, neuen Lebensraum zu erobern.

Kriegsende und Traumata

Der Autor ist der Auffassung, dass Adolf Hitler aus dem Ersten Weltkrieg als eine mehrfach schwer traumatisierte Persönlichkeit herauskam, und dafür gibt es mehr als einen Grund. Wenige Monate später aber war dieser Traumatisierte zum aktiven politischen Handeln bereit. Untersuchen wir in diesem Kapitel die Zeit, an deren Ende es nur noch der Entdeckung seiner sich entwickelnden Fähigkeiten bedurfte.

In „Mein Kampf“ schließt Hitler das Thema Erster Weltkrieg mit den folgenden Worten ab:

Kaiser Wilhelm II. hatte als erster deutscher Kaiser den Führern des Marxismus die Hand zur Versöhnung gereicht, ohne zu ahnen, dass Schurken keine Ehre besitzen. Während sie die kaiserliche Hand noch in der ihren hielten, suchte die andere schon nach dem Dolche. Mit dem Juden gibt es kein Paktieren, sondern nur das harte Entweder-Oder. Ich aber beschloss, Politiker zu werden. (1i)

Das ist eine rational völlig absurde, unglaubwürdige Aussage, mittels derer Hitler seinem Publikum im Jahre 1925 weismachen wollte, dass er schon immer das Zeug zum politischen Führer gehabt hätte. Alles das, was wir bislang erfahren konnten, zeigt uns jedoch, dass er bei Kriegsende weder fähig noch willens war, aktiv in die Politik einzutreten. Vielmehr zeigte er sich in jener Zeit als ein gebrochener, orientierungsloser Mensch.

Dass auch noch der letzte „deutsche Kaiser den Marxisten die Hand zur Versöhnung“ gereicht hätte, die sich dann als die von Juden, die nach „dem Dolche suchte“, entpuppt hätte, passt zur hier zitierten Dichtung des zu jener Zeit bereits etablierten nationalsozialistischen Führers. Er wollte, konnte und durfte sich fünf Jahre nach dem Krieg nicht als diese seelisch zerstörte, lenkbare Persönlichkeit beschreiben, die er Ende des Jahres 1918 tatsächlich war. Das Trauma aber, dass er damals vor Kriegsende erlitten hatte, würde er auf seine Weise aufarbeiten.

Drei Wochen bevor das Deutsche Kaiserreich einen Waffenstillstand einging — in der Nacht vom 13. auf den 14. Oktober 1918 —, war Hitlers Einheit bei Ypern (7) in einen mehrstündigen Gasangriff der Briten geraten. Hitler ließ dazu in „Mein Kampf“ eine interessante Bemerkung fallen (Hervorhebung durch Autor):

„[…] man verwendete dabei Gelbkreuz, das uns in der Wirkung noch unbekannt war, soweit es sich um die Erprobung am eigenen Leibe handelte. Ich sollte es noch in dieser Nacht selbst kennenlernen. (1ii)

Ganz prinzipiell mussten die Wirkungen von Senfgas — das verbirgt sich hinter dem Namen Gelbkreuz — anfangs nämlich britische Soldaten erleiden. Hatte doch Deutschland dieses Gas als Kampfstoff im Juli 1917 zum ersten Male eingesetzt. Die Ironie des Schicksals lautete in diesem Falle, dass der Angriff dort erfolgte, wo das Gas 15 Monate später Adolf Hitler ereilte — eben in der Nähe von Ypern. Die Wirkung dieses Gases setzt nicht zwingend sofort ein, und damit stellte sich Hitlers Zustand am Morgen des 14. Oktober 1918 wahrscheinlich so dar, wie es über den Angriff beschrieben wurde, den die Deutschen im Jahr zuvor auf die britischen Stellungen geführt hatten:

Erst am nächsten Morgen sahen die Soldaten der betroffenen Einheiten aus, als seien sie von einer »biblischen Plage« befallen. Mit brennenden Augen stolperten die Soldaten durchs Gelände. (8)

Die Soldaten waren also aufgrund der Schmerzen und entzündeten Augen in der Regel orientierungslos und taumelten, so sie es noch konnten, einfach nur durch das Gelände. Da Senfgas zuerst innerlich die empfindlicheren Schleimhäute angreift, sind äußere Verletzungen, wie eitrige Blasen, vor allem anfangs, nicht zwingende Symptome einer Verletzung durch Senfgas (9).

So ungefähr muss also auch Hitler herumgeirrt sein, bevor er von den Sanitätern aufgesammelt und in einen Lazarett-Zug Richtung Pasewalk im heutigen Mecklenburg-Vorpommern verfrachtet wurde, wo er am 17. Oktober eintraf. Blind vor Schmerzen und hilflos auf einem mörderischen Schlachtfeld: Allein das genügt allemal für ein tief eingebranntes Trauma. So ein Trauma wiegt um so schwerer, wenn in diesem eine bedrohliche Angst erwächst, möglicherweise dauerhaft sein Augenlicht zu verlieren — nie wieder sehen zu können.

Diese physische und dazu die schon länger in Hitler immanenten psychischen Verletzungen waren geeignet, das verursachte Trauma nur noch zu stärken. Giftgas ist keine Waffe, die Kriege entscheidet, aber sie ist bestens geeignet, Terror auszuüben, und die Opfer von Terror, so sie ihn psychisch nicht verarbeiten können, sind zukünftig dauerhaft traumatisiert. Heute nennt man so etwas Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) — damals diagnostizierte man Hysterie (10).

Hitler hatte es in seiner Jugend und Kindheit nicht gelernt, soziale Beziehungen zu knüpfen. Seine Eltern — ein tyrannischer Vater und eine unterwürfige, depressive Mutter — waren nicht in der Lage gewesen, ihm so etwas vorzuleben. Das ist ein wichtiger Grund für dieses Stehenbleiben in einer idealisierten Welt aus Gut und Böse. Das vor dem Krieg so starke und mächtige Deutsche Kaiserreich war ihm quasi zum Ersatzvater geworden. Mit diesem identifizierte sich der junge Mann, an dieses band er seinen Selbstwert. Sein Gefühl für Menschen, Wärme und Empathie war wohl vorhanden, aber allenfalls rudimentär ausgeprägt. Noch mehr wurde es in diesem fürchterlichen Krieg verschüttet, in dem Hitler aber eben auch eine Heimat fand — freilich trotzdem unfähig, stabile soziale Kontakte zu anderen Menschen aufbauen zu können. Andererseits fühlte er sich im aufopfernden Kampf für sein Idol (das Kaiserreich) geborgen, auf eine gewisse Art glücklich.

Nun erfährt dieser in einer Klinik von einer auch traumatisch wirkenden Giftgasverletzung genesende Adolf Hitler am 10. November 1918 das für ihn Undenkbare. Sein Denkmal — das, an welches er sich klammert, um etwas zu haben, für das es sich lohnt zu leben: Es wird gestürzt. Ein Pastor erscheint im Lazarett, um vom Untergang des Kaiserreichs zu berichten:

Als aber der alte Herr weiter zu erzählen versuchte und mitzuteilen begann, dass wir den langen Krieg nun beenden müssten, ja, dass unser Vaterland für die Zukunft, da der Krieg jetzt verloren wäre und wir uns in die Gnade der Sieger begäben, schweren Bedrückungen ausgesetzt sein würde, dass der Waffenstillstand im Vertrauen auf die Großmut unserer bisherigen Feinde angenommen werden sollte — da hielt ich es nicht mehr aus. Mir wurde es unmöglich, noch länger zu bleiben.“ (1iii)

Hitler setzt in „Mein Kampf“ fort:

„Während es mir um die Augen wieder schwarz ward, tastete und taumelte ich zum Schlafsaal zurück, warf mich auf mein Lager und grub den brennenden Kopf in Decke und Kissen. Seit dem Tage, da ich am Grabe der Mutter gestanden, hatte ich nicht mehr geweint. Wenn mich in meiner Jugend das Schicksal unbarmherzig hart anfasste, wuchs mein Trotz. (1iv)

Das ist authentisch. Es ist ein bemerkenswertes, emotionales Bekenntnis von Schwäche — und trotzdem ist es auch gewöhnlich. Es ist ungewollt authentisch, denn Hitler erzählt hier ausdrucksstark von seinem Seelenleben. Er betrauert mit Tränen den Verlust seiner „heilen Welt“. Einer Welt, die ihm als Ersatz für die vorenthaltenen, für uns alle lebenswichtigen, positiven emotionalen Bindungen zu Menschen aus Fleisch und Blut diente.

Ein Mensch, der über ein Jahrzehnt nicht in der Lage war, zu weinen, leidet (!) unter Gefühlsarmut. Er ist in seinen empathischen Fähigkeiten hochgradig eingeschränkt, ja blockiert.

Vom riesigen Heer der Verführten und dann Kämpfenden blieb am Ende des Krieges ein großes Heer der gläubig Gebliebenen, aber nun Enttäuschten, ja Entwurzelten. Nicht zufällig rekrutierten nach dem Krieg die Freikorps aus diesem Heer ihre Mitglieder, welche bald all jene rücksichtslos zu jagen begannen, denen sie die Schuld an des Kaiserreichs Niederlage in die Schuhe schieben konnten (11).

Hitler hat in „Mein Kampf“ sein Erlebnis und die erlebten Gefühle unter die Kapitelüberschrift „Umsonst alle Opfer“ gesetzt. Es erscheint damit keinesfalls überzeichnet, wenn Hitler schreibt, dass er an jenem 10. November 1918 geweint hat. Man hatte ihm das in seinen Augen Wertvollste genommen, seinen Ersatzvater, sein Kaiserreich.

So sehr Hitler fünf, sechs Jahre später heroisch ausschmückt, was er im Spätherbst 1918 empfand, beschreibt er doch trotzdem eindrucksvoll seine Identifikation im Außen:

Hatte also dafür der deutsche Soldat im Sonnenbrand und Schneesturm hungernd, dürstend und frierend, müde von schlaflosen Nächten und endlosen Märschen ausgeharrt? Hatte er dafür in der Hölle des Trommelfeuers und im Fieber das Gaskampfes gelegen, ohne zu weichen, immer eingedenk der einzigen Pflicht, das Vaterland vor dem Einfall des Feindes zu bewahren? […].“ (1v)

und weiter:

„Und die Heimat — ? Allein — war es nur das einzige Opfer, das wir zu wägen hatten? War das vergangene Deutschland weniger wert? Gab es nicht auch eine Verpflichtung der eigenen Geschichte gegenüber? Waren wir noch wert, den Ruhm der Vergangenheit auch auf uns zu beziehen? Wie aber war diese Tat [die Zerschlagung des Kaiserreichs und die deutsche Kapitulation] der Zukunft zur Rechtfertigung zu unterbreiten? (1vi)

Hitler stellte die Schuldfrage. Das „musste“ er, da er zeitlebens immer die Auseinandersetzung mit seiner dunklen Seite scheute. Vor dieser Seite im Ich hatte er Angst. Auch das ist bis zum heutigen Tag weit verbreitet. Hitler „musste“ damals, wie heutige Zeitgenossen auch, Schuldige finden. Um eine politische Karriere zu starten, bedurfte es einerseits noch einer „Erweckung“, eines „Aha“-Erlebnisses. Und zum Anderen musste er entdeckt und gefördert werden. So weit war es im November 1918 noch nicht.

Wiederholt wird von Historikern in „Mein Kampf“ eine krasse Heroisierung Hitlers eigener Person aus dem Buch interpretiert. Eine, die nicht belastbar ist. Im Vergleich zum Gesamtbuch machen die biografischen Passagen nur einen sehr kleinen Teil aus. Der große Rest sind ideologische und politische Betrachtungen einschließlich fortlaufender Wiederholungen seiner Feindbilder. Auch kann der Autor nicht erkennen, dass Hitler diese Episode in der Klinik von Pasewalk in dem Sinne überzeichnet, dass er ein zweites Mal erblindet wäre. Dass unsere mentale Verfasstheit Einfluss auf die physische hat, ist wohl unbestritten. Hitler beschrieb schlicht seinen emotional hilflosen Zustand — nicht einen erneuten Verlust des Augenlichtes. Er wurde depressiv. Nichts daran ist imaginär.

Hitler war durchaus nicht daran gelegen, seine eigene Person zu überhöhen — nicht vor seiner politischen Karriere und auch nicht, als diese begonnen hatte. Er verstand sich vielmehr als Diener einer heiligen Mission. Er sah sich nicht als Gott, dafür als dessen Sendboten. Sein Gott war der Nationalsozialismus. Das politische Wirken Hitlers erinnert an die den Krieg heilig sprechenden Missionare, welche den spanischen Konquistadoren vorangingen, um sich mit Feuer und Schwert der Reichtümer des neu entdeckten Amerika zu bemächtigen. Der Historiker Othmar Plöckinger kam dem in seiner Wertung schon etwas näher:

Biografische Darstellungen waren daher für Hitler nie Selbstzweck. Sie waren stets seinem Anspruch untergeordnet, sich als Ideologen sui generis, als Schöpfer des Nationalsozialismus zu präsentieren. (12)

Andererseits ist zu berücksichtigen, dass bereits vor 1923 ein Kult um Adolf Hitler eingesetzt hatte, der den Menschen Hitler veränderte. Er war weder fähig noch willens, sich diesem Kult zu entziehen. Systematisch und zunehmend großzügiger würde er bald in seiner Rolle als politischer Führer gestärkt werden: logistisch, materiell und finanziell. Seinen weiteren Weg würde er aus dieser inneren Verfassung heraus beschreiten. Die Voraussetzungen dafür waren Ende 1918 gegeben, denn:

„Aus dem Krieg ging Hitler orientierungslos hervor. Mit der Auflösung des List-Regiments löste sich auch seine Welt auf.” (13)

Bitte bleiben Sie schön aufmerksam, liebe Leser.

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Anmerkungen und Quellen

(Allgemein) Dieser Artikel von Peds Ansichten ist unter einer Creative Commons-Lizenz (Namensnennung — Nicht kommerziell — Keine Bearbeitungen 4.0 International) lizenziert. Unter Einhaltung der Lizenzbedingungen — insbesondere der deutlich sichtbaren Verlinkung zum Blog des Autors — kann er gern weiterverbreitet und vervielfältigt werden. Bei internen Verlinkungen auf weitere Artikel von Peds Ansichten finden Sie dort auch die externen Quellen, mit denen die Aussagen im aktuellen Text belegt werden.

(Allgemein) Die Artikelreihe „Hitlers Kampf und sein Weg zur Macht“ fußt auf der vor Jahren veröffentlichten Reihe „Lesungen aus einem verbotenen Buch“. Die ursprünglichen Texte, bestehend aus acht Artikeln, wurden umfassend überarbeitet — sowohl inhaltlich als auch redaktionell. Außerdem fanden sie ihre Fortsetzung in weiteren Artikeln, die letztlich in eine unter einer Creative-Commons-Lizenz verfügbaren Buchedition (online) münden werden.

(a1) Weit über einhundert Mal verwendet Hitler in „Mein Kampf“ den Begriff „Schicksal“.

(a2) Man kann Hitler sicher eine Persönlichkeitsstörung zuschreiben, doch charakterisiert diese nicht die eines Psychopathen, sondern eher eines Soziopathen. Siehe hierzu auch die ersten sechs Artikel zur Reihe „Hitlers Kampf und sein Weg zur Macht“.

(1) Mein Kampf, Erster Band — Eine Abrechnung; Adolf Hitler; Zwei Bände in einem Band; ungekürzte Ausgabe; Zentralverlag der NSDAP., Frz. Eher Nachf., G.m.b.H., München; 851.–855. Auflage 1943; S. 209, 212; (1i) S. 225; (1ii) S. 222; (1iii, 1iv) S. 223; (1v, 1vi) S. 224

(2 bis 2vii) Der Mann der Feldherr werden wollte; 1964; Blick + Bild Verlag; entnommen bei: 18.11.1964; Fritz Wiedemann; https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-46176139.html; Artikel hinter Werbeschranke

(3) 2004; Universität Bremen; Gerhard Vinnai; Hitler — Scheitern und Vernichtungswut. Zur Genese des faschistischen Täters; Psychosozial-Verlag, Gießen 2004; ISBN: 3-89806-341-0; https://vinnai.de/hitler.html

(4) 26.12.2016; Theoriekritik; Götz Eisenberg; Der Hass auf das Lebendige. Anmerkungen zur Sozialpsychologie des Faschismus — einst und jetzt; http://www.theoriekritik.ch/?p=3111

(5) 13.09.2018; Alexander Gallus; Die deutsche Revolution 1918/19; https://www.bpb.de/geschichte/deutsche-geschichte/weimarer-republik/275865/revolutionen

(6) 23.10.2024; The West’s Darkest Hour; Brendan Simms; Hitler; Deutsche Verlagsanstalt, 2020; https://westsdarkesthour.com/category/hitler-only-the-world-was-enough-book/page/6/; https://westsdarkesthour.com/category/hitler-only-the-world-was-enough-book/page/5/

(7) Project Gutenberg; Histories Of Two Hundred And Fifty-One Divisions Of The German Army Which Participated In The War (1914-1918); 6th. Bavarian Reserve Division.; History; https://www.gutenberg.org/cache/epub/55620/pg55620-images.html#Page_138; abgerufen: 05.05.2025

(8) 14.07.2017; Welt; Florian Stark; Der Tod kroch aus großen, gelblichen Pfützen; https://www.welt.de/geschichte/article166639216/Der-Tod-kroch-aus-grossen-gelblichen-Pfuetzen.html

(9) 2015; Factsheet SENFGAS; Bundesamt für Bevölkerungsschutz, Schweiz; https://web.archive.org/web/20171015044422/https://www.labor-spiez.ch/pdf/de/dok/fas/FS-Senfgas_d.pdf

(10) 22.02.2025; info+patient; Posttraumatische Belastungsstörung; https://info-patient.de/blog/posttraumatische-belastungsstoerung

(11) 10.09.2012; Historisches Lexikon Bayerns; Bruno Thoß; Freikorps; https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Freikorps

(12) 2010; Frühe biografische Texte zu Hitler; Othmar Plöckinger; IfZ München, Vierteljahreshefte; https://web.archive.org/web/20201029170705/https://www.ifz-muenchen.de/heftarchiv/2010_1_4_pl%C3%B6ckinger.pdf; S. 113

(13) 20.04.2012; Wencke Meteling; https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-16122  Rezension zu: Hitlers erster Krieg; Thomas Weber; 2011; Propyläen Verlag, Berlin; ISBN: 978-3549 0740 53

(Titelbild) Volksempfänger, Mein Kampf; Spengler Museum Sangerhausen; 06.08.2007; Autor: Giorno2 (Wikimedia); https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Spengler_Museum_Sangerhausen_4.jpg; Lizenz: Creative Commons 4.0

Von Ped

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