Adolf Hitler hat in „Mein Kampf“ über seine Jugend in Wien geschrieben. Diese Jugend war von Armut bestimmt und in dieser fand Hitler die Wurzeln „seiner“ Ideologie.


Mit dem Tod des Vaters und Weggang aus seiner Heimat nach Wien lernte Adolf Hitler Glanz und Elend der Kaiserstadt am eigenen Leib kennen. Außerdem folgte er mit wachen Augen den politischen Vorgängen im Machtzentrum der Habsburger Monarchie. Er lernte Gewerkschaften, Parteien und Parlamente kennen und verdiente sich seinen Unterhalt mehr schlecht als recht. Und schließlich wurde Hitler vom bereits damals grassierenden Antisemitismus eingefangen. In „Mein Kampf“ wird deutlich, wie stark die Jahre in Wien Hitler für sein ganzes Leben geprägt haben.


Vorab:

Das Wesen des jugendlichen Hitler

Nachdem sich seine beruflichen Träume zerschlagen hatten — ein Studium an der Kunstakademie, um Maler werden zu können, blieb ihm verwehrt —, lernte Adolf Hitler rasch, was es bedeutet, einen Alltag unter existenziellen Nöten zu bestreiten. Das ahnte er freilich noch nicht, als er, befreit von der Tyrannei des Vaters, in die Zukunft schaute:

„Der frühere Trotz war wieder gekommen, und mein Ziel endgültig ins Auge gefasst. Ich wollte Baumeister werden, und Widerstände sind nicht da, dass man vor ihnen kapituliert, sondern dass man sie bricht. Und brechen wollte ich diese Widerstände, immer das Bild des Vaters vor Augen, der sich einst vom armen Dorf- und Schusterjungen zum Staatsbeamten emporgerungen hatte.“ (1, a1)

Man beachte Hitlers Sprachwahl. Sein Ausdruck hat, geprägt durch die Sozialisierung in einer von Gewalt und Mangel an Liebe geprägten Kindheit, eine sichtbar gewalttätige Attitüde. Er hat, wie man so schön sagt, um den weichen Kern (wie ihn jeder Mensch hat) einen Panzer gelegt und damit seine Verletzungen eingemauert. Während er nach innen äußerst verletzlich und somit labil geprägt ist, kompensiert er das nach außen mit Härte:

„Widerstände sind nicht da, dass man vor ihnen kapituliert, sondern dass man sie bricht.“

Hitler sah also schon damals gar kein anderes Elixier als Kampf (Krieg), um Veränderungen — welcher Art auch immer — umzusetzen. Er war auf Kampf trainiert worden und das würde sein Leben prägen. Er wurde sozialisiert wie die Mehrzahl seiner Zeitgenossen. Er wurde durch seine persönlichen Erfahrungen nun auch beständig in der Überzeugung gestärkt, dass nur im Kampf, in der rücksichtslosen Durchsetzung des vermeintlich Guten gegen das vermeintlich Böse der Sinn des Lebens bestehen konnte.

Das machte Hitler nicht außergewöhnlich. Weder war er brutaler noch war er skrupelloser als sein allgemeines Umfeld. Seine Psyche ging also in einer großen Gruppe von Menschen auf, die diese Psyche damit sozusagen als „normal“ bestätigte. Man war quasi unter sich. Mit solch einer Konstitution und in einem solchen Umfeld sind wir für Ideologien äußerst empfänglich. Was einer Erklärung bedarf.

Der Kampf, den Menschen führen, richtet sich gegen die (subjektiv erkannten) Schuldigen. Erfahrene Verletzungen machen im Übermaß sensibel für die Wiederholung. Erfahren Menschen Verletzungen in der Kindheit, erwerben sie zum erfahrenen und gespeicherten Schmerz, zur erfahrenen Herabwürdigung auch noch die, daran selbst Schuld zu haben. Schuld ist sogar der kongeniale Partner von Herabwürdigung, von Unterwerfung. Das wiederum bedeutet Abhängigkeit und permanente Ängste. Angst ist der gefühlte Verlust von Sicherheit, die wir umgehend versuchen wiederherzustellen.

Weshalb nun ergibt sich hier eine Verbindung dieser Verhaltensmuster mit einem Buch von Adolf Hitler? Weil Hitler in „Mein Kampf“ anschaulich beschreibt, wie er seine immanenten Ängste für sich selbst (scheinbar!) aufgelöst hat.

Der schon in seiner Kindheit traumatisierte Junge, welcher nach außen hin rebellierte, weil er die ihm aufgezwungenen Schuldgefühle versuchte, zu verarbeiten, wird nun als junger Mann sozial völlig entwurzelt. Das konterkariert auch noch das, was er in den Büchern las, die von einer idealisierten Welt edler Ritter erzählten, die erfolgreich für eine verschworene Gemeinschaft eintraten. Gemeinschaft ist der Halt, an den sich Hitler zu klammern versuchte. Das würde allerdings in Konflikt geraten mit seiner verkrüppelten Empathie, seiner Unfähigkeit für konstruktives, gleichberechtigtes, kollektives Handeln.

Hitler dachte zwar für die Gemeinschaft, doch gelang es ihm nicht, sich innerhalb der Gemeinschaft zu sehen. Er erlebte sich nicht als Teil dieser Gemeinschaft.

Wir alle benötigen Gemeinschaft. Wir sind soziale Wesen. Doch meint der Autor, dass eine natürliche Gemeinschaft von Herzen kommt, nicht von modellhaften Strukturen. Um in einer Gemeinschaft glücklich zu sein, bedürfen wir „eigentlich“ keiner Ideologie. Es sei denn, unser Fühlen ist mit Schmerzen und Angreifbarkeit verbunden. Dann benötigen wir die Krücke, den geistigen gemeinsamen Halt, eine Religion, eine Ideologie.

Hitler würde „seine“ Ideologie finden müssen, egal wie mies diese Krücke auch gebaut sein würde. Aber Menschen wollen leben. Findet man keine Heilung des Traumas — und Hitler fand die auch nie —, ist eine Ideologie die einzige Möglichkeit, weiterzuleben. An ihr kann man sich dann festhalten. Man beachte Hitlers emotionale Sprunghaftigkeit. Der Mann war später, selbst „im Erfolg“, ständig suizidgefährdet. Er erlebte Kicks, wenn er gefeiert wurde, um nachfolgend in tiefe Depressionen zu fallen. Die ihm aufgebürdete, als Kind aufgebürdete Schuld: sie ließ ihn nie los.

Hitlers Erfahrungen mit Armut

Lassen wir Hitler über seine geradezu körperlich gelebten Erfahrungen sprechen, die er im prunkvollen Wien der k.u.k.-Monarchie sammeln durfte:

„Kaum in einer deutschen Stadt war die soziale Frage besser zu studieren als in Wien. Aber man täusche sich nicht. Dieses ‚Studieren‘ kann nicht von oben herunter geschehen. Wer nicht selber in den Klammern dieser würgenden Natter sich befindet, lernt ihre Giftzähne niemals kennen.“ (1i)

Was meinte er mit den „Giftzähnen“? Er meinte die des nagenden Hungers. Eines starken Signals, welches unbarmherzig bohrend vor einem lebensbedrohlichen Mangel warnt. Wer gehungert hat — was deutlich zu unterscheiden ist vom „Hunger haben“ — und das möglicherweise über längere Zeit hinweg, für den wird sich diese Erfahrung tief eingraben, und das weitere Leben begleiten. Ältere, welche die Kriegs- und Nachkriegsjahre durchlebten, können darüber berichten.

Hitler hat das erlebt und auch viele Jahre später nicht vergessen. Es hat sich in ihm, gleich unzähligen seiner Zeitgenossen, tief eingebrannt. Er selbst wollte es nicht mehr erleben und das wünschte er sich auch für die Allgemeinheit. Über Hitlers abgrundtiefen Hass wird noch zu sprechen sein, aber sein Hass war nicht der eines Psychopathen. Das erkennt man an solchen Passagen im Buch.

Hitler war also kein Antisozialer. Vielmehr war er eine tief gespaltene Persönlichkeit. Er erkannte sein eigenes Schicksal in anderen Menschen. Er spiegelte. Er hatte einen Sinn für Recht und Unrecht, und ein Unrecht sah er darin, dass man sich Essen „verdienen“ muss:

„Dass es da irgendeine Arbeit immer gibt, lernte ich bald kennen, allein ebenso schnell auch, wie leicht sie wieder zu verlieren ist. Die Unsicherheit des täglichen Brotverdienstes erschien mir in kurzer Zeit als eine der schwersten Schattenseiten des neuen Lebens.“ (1ii)

Wie gesagt: Hitler sprach nicht von Geld. Er sprach von Essen. Sie kennen ja vielleicht die sozialdarwinistischen Sprüche aus jüngerer Vergangenheit, welche in genau diese Richtung gehen. Der bundesdeutsche, sozialdemokratische Spitzenfunktionär Franz Müntefering gab im Rahmen der Diskussion zu Einsparungen bei den Hartz-IV-Gesetzen zum Besten: „Nur wer arbeitet, soll auch essen.“ (2)

Wer glaubt, dass diese Worte das Ergebnis einer hitzigen Diskussion im Jahre 2010 waren, mag durchaus Recht haben. Nur entsprangen sie vor allem einer tiefen Überzeugung des Franz Müntefering, der schon vier Jahre zuvor festgestellt hatte: „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen.“ (3)

Man sollte doch meinen, solche Worte nur in einer faschistischen, nicht aber in einer demokratischen Gesellschaft vernehmen zu können. Doch sprach diesen Sozialdarwinismus ein sozialdemokratischer Arbeitsminister aus, was für seine politische Karriere weitgehend folgenlos blieb. So etwas ist aus Sicht des Autors faschistisch. Faschismus beginnt im Denken, nicht in Springerstiefeln.

Spannend ist, dass dieser Spruch, „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen“, aus der Bibel stammt (4) und von einem gewissen August Bebel, sozusagen Vater der deutschen Sozialdemokratie und Zeitgenosse des jungen Hitler, in seinem Werk „Die Frau und der Sozialismus“ definiert wurde:

„Der Sozialismus stimmt mit der Bibel darin überein, wenn diese sagt: Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen. Aber die Arbeit soll auch nützliche, produktive Tätigkeit sein.“ (5)

Arbeit und Lohnarbeit wurde von Bebel gleichgesetzt — genauso wie einhundert Jahre später von Franz Müntefering. Nur diese Kategorie, dem geltenden System entnommen und für das System nützlich und damit gleichzeitig moralisch notwendig bewertet, dürfte gelten. Dahinter steckt eine höchst fragwürdige, kapitalistisch verankerte Ideologie.

Leben wir, um zu arbeiten, oder arbeiten wir, um zu leben? Anders ausgedrückt: Leben wir nach dem Naturrecht, dem Recht auf Leben, um Geld zu „verdienen“, oder verdingen wir uns für Geld, um in und nach diesem System, welches das Naturrecht mit Füßen tritt, zu leben? Was lief und läuft da schief?

Was hemmt außerdem das schöpferische, erfüllende und kollektiv bereichernde Element der Menschen? Geht der Bauer lediglich aufs Feld, um nicht zu verhungern, um Arbeitslohn zu erhalten, um reicher zu werden? Oder treibt den Bauern mehr um? Gäbe es keine Bauern, wenn es keine Pflicht zur (Lohn)arbeit gäbe?

Hitler hat in jungen Jahren regelmäßig gehungert. Er hat sich für Arbeiten verdingt, um nicht zu verhungern.

„Auch heute noch kann diese Stadt nur trübe Gedanken in mir erwecken. Fünf Jahre Elend und Jammer sind im Namen dieser Phäakenstadt für mich enthalten. Fünf Jahre, in denen ich erst als Hilfsarbeiter, dann als kleiner Maler mir mein Brot verdienen musste; mein wahrhaft kärglich Brot, das doch nie langte, um auch nur den gewöhnlichen Hunger zu stillen. Er war damals mein getreuer Wächter, der mich als einziger fast nie verließ, der in allem redlich mit mir teilte.“ (1iii)

Und weiter:

„Jedes Buch, das ich mir erwarb, erregte seine Teilnahme; ein Besuch der Oper ließ ihn mir dann wieder Gesellschaft leisten auf Tage hinaus; es war ein dauernder Kampf mit meinem mitleidslosen Freunde. Und doch habe ich in dieser Zeit gelernt, wie nie zuvor. Außer meiner Baukunst, dem seltenen, vom Munde abgesparten Besuch der Oper, hatte ich als einzige Freude nur mehr Bücher.“ (1iv)

Und so, wie er es da ausdrückt, hatte er offenbar keine gemeinsamen Unternehmungen mit Freunden. Man liest heraus, dass da ein Eigenbrödler sein Leben fristete.

All das ist nur bedingt eine Stilisierung des eigenen Schicksals. Hitler hat sich das nicht aus den Fingern gesogen. Schicksale dieser Art waren ganz und gar nichts Außergewöhnliches in jener Zeit. Außerdem ist es aber noch bemerkenswert, dass Hitler Bücher kaufte und in die Oper ging — um den Preis des Hungerns. Es ist zudem bekannt, dass Adolf Hitler, kaum 20 Jahre alt, längere Zeit in einem Männerwohnheim untergebracht und zuvor über Monate obdachlos war (6).

Hitler wusste also aus eigener Erfahrung, was Not bedeutet. Er erfuhr sie am eigenen Leibe und empfand sie — keinesfalls nur für sich selbst — als zutiefst ungerecht und einer Gesellschaft unwürdig. Die Zuwendungen an Arme durch Philanthropen begriff er als gleichermaßen unwürdig und diffamierend. Vielmehr sah er soziale Grundsicherung als ein Recht und schrieb deshalb auch:

„Ich weiß nicht, was verheerender ist: die Nichtbeachtung der sozialen Not, wie dies die Mehrzahl der vom Glück Begünstigten oder auch durch eigenes Verdienst Gehobenen tagtäglich sehen lässt, oder jene ebenso hochnäsige wie manchmal wieder zudringlich taktlose, aber immer gnädige Herablassung gewisser mit dem »Volk empfindender« Modeweiber in Röcken und Hosen.“ (1v)

Auch hier schwingt der Eindruck mit, dass Hitler solche Episoden selbst erlebt hat und sich dadurch beschämt sah. Dieses unwürdige Schauspiel, soziale Leistungen zu kürzen, um Arbeitssuchende „zu motivieren“ und auf der anderen Seite die Selbstdarstellung hyperreicher Philanthropen, die sich in ihrer Wohltätigkeit sonnen, nach welcher die Bedürftigen die milden Gaben doch mit tiefer Dankbarkeit honorieren mögen, erleben wir heute auch. Hitler fand das verlogen und betonte daher:

„Dass eine soziale Tätigkeit damit [mit Philanthropie] gar nichts zu tun hat, vor allem auf Dank überhaupt keinen Anspruch erheben darf, da sie ja nicht Gnaden verteilen, sondern Rechte herstellen soll, leuchtet einer solchen Art von Köpfen nur ungern ein.“ (1vi)

Das sind keine leeren Worte oder bewusste Manipulierung seiner Leser. Das ist auch keine Propaganda. Das ist soziales Denken. Hitler konnte sich in die Menschen durchaus hineinversetzen. Man erkennt das an der Bildhaftigkeit, mit der er die Verhältnisse beschreibt:

„Dann wird der Wochenlohn in zwei, drei Tagen zu Hause gemeinsam vertan; es wird gegessen und getrunken, solange das Geld hält, und die letzten Tage werden ebenso gemeinsam durchgehungert. Dann schleicht die Frau in die Nachbarschaft und Umgebung, borgt sich ein weniges aus, macht kleine Schulden beim Krämer und sucht so die bösen letzten Tage der Woche durchzuhalten.“ (1vii)

Und weiter:

„Mittags sitzen sie alle beisammen vor mageren Schüsseln, manchmal auch vor nichts, und warten auf den kommenden Lohntag, reden von ihm, machen Pläne, und während sie hungern, träumen sie schon wieder vom kommenden Glück. So werden die kleinen Kinder in ihrer frühesten Jugend mit diesem Jammer vertraut gemacht.“ (1viii)

Hitler sah auch den sozialen Sprengstoff solcher Verhältnisse. Er erkannte, dass Entwurzelung jeder Art das System insgesamt gefährdet.

„Fast trüber noch waren damals die Wohnungsverhältnisse. Das Wohnungselend des Wiener Hilfsarbeiters war ein entsetzliches. Mich schaudert noch heute, wenn ich an diese jammervollen Wohnhöhlen denke, an Herberge und Massenquartier, an dies düsteren Bilder von Unrat, widerlichem Schmutz und Ärgerem.“ (1ix)

Deshalb fragte er sich, warum die vermögende Klasse nicht — und wenn auch nur aus dem eigenen Interesse am Erhalt der grundlegenden Verhältnisse — willens und fähig war, solche Schieflagen zu mildern oder zu beseitigen:

„Wie musste und wie muss dies einst werden, wenn aus diesen Elendshöhlen der Strom losgelassener Sklaven über die andere, so gedankenlose Mitwelt und Mitmenschen sich ergießt!“ (1x)

Was beim Studium gewisser Passagen in „Mein Kampf“ verblüffen kann, sind die Zusammenhänge, welche Hitler zwischen sozialer Not, Existenzängsten, gesellschaftlicher Stellung, daraus resultierenden Zielen und dem damit einhergehenden Bewusstsein erkannte. Dieser Mann war nicht oberflächlich und er war auch nicht dumm. Er war nicht schlau — im Sinne von gerissen oder ausgebufft. Er war wirklich klug. Hitler war zudem belesen, und sehr wohl liest man heraus, worauf er seine Schlussfolgerungen aus eigenem Erleben und Nachdenken authentisch begründete.

Hitlers Ansätze zur Lösung sozialer Probleme

Im Folgenden erleben wir ein typisches Dilemma. Von den hautnah gespürten sozialen Verhältnissen im Wien seiner Jugendjahre angewidert und mit den Betroffenen ehrlich mitfühlend, sucht ein Mensch nach Möglichkeiten zur Änderung. Doch ist er in seiner sozialen Kompetenz stark eingeschränkt und hat nicht gelernt, Konflikte konstruktiv und kollektiv anzugehen. 

„Schon damals ersah ich, dass hier nur ein doppelter Weg zum Ziele einer Besserung dieser Zustände führen könne: Tiefstes soziales Verantwortungsgefühl zur Herstellung besserer Grundlagen unserer Entwicklung, gepaart mit brutaler Entschlossenheit in der Niederbrechung unverbesserlicher Auswüchslinge.“ (1xi)

Anders hatte es Hitler nicht gelernt. Seine Kindheit war Kampf, seine Jugend war es und seine Lehr- und Arbeitsjahre in Wien waren es ebenfalls. Purer Kampf, teilweise um die nackte Existenz geführt, welche die Notwendigkeit des Kampfes, des persönlich geführten Krieges jeden Tag aufs Neue bestätigten. Das Sein bestimmt das Bewusstsein, die Rückkopplung — also das Bewusstsein bestimmt das Sein — war gestört.

Daher war sich Hitler, gleich unzähligen Anderen damals und heute, seines Seins nicht bewusst; seines Seins als eines im ständigen Kampf um die Rettung des eigenen Egos stehenden Menschen.

Adolf Hitler schlug nicht aus der Art. Es gab und gibt Millionen Hitlers. Das ist ein geradezu unerschöpflicher Pool, aus dem sich kalt berechnende Eliten bedienen können, um neue Führer zu formen.

Hitlers Ego suchte Identifikation im Außen und er wurde fündig; gleich Unzähligen seiner Zeit und nachfolgender Generationen. Er verband den erkannten sozialen Missstand mit dem, was ihm selbst Halt und Selbstachtung gab. Das deutet sich in diesem Gedanken bereits an:

„Ich weiß nicht, was mich nun zu dieser Zeit am meisten entsetzte: das wirtschaftliche Elend meiner damaligen Mitgefährten, diese sittliche und moralische Rohheit oder der Tiefstand ihrer geistigen Kultur.“ (1xii)

Die Identifikation des Österreichers Hitler mit dem deutschen Volke als dem eines auserwählten, überlegenen, welches berufen war, groß und mächtig zu sein, sie schwingt hier mit.

„Wie viele begreifen denn die Unzahl einzelner Erinnerungen an die Größe des Vaterlandes, der Nation, auf allen Gebieten des kulturellen und künstlerischen Lebens, die ihnen als Sammelergebnis eben den berechtigten Stolz vermitteln, Angehörige eines so begnadeten Volkes sein zu dürfen? Wie viele ahnen denn, wie sehr der Stolz auf das Vaterland abhängig ist von der Kenntnis der Größe desselben auf allen diesen Gebieten?“ (1xiii)

Dem mit Pathos vorgetragenen Idealismus sieht man die gewalttätige Note nicht an. Der Schritt hin zum Machtanspruch, legitimiert durch einen radikalen Nationalismus, er ist nur klein. Bereits als Kind hatte sich Hitler den romantisch verklärten Militarismus des deutschen Kaiserreiches eingesogen. Nochmals zitiert sei, was bei Hitler aus der Kindheit hängen geblieben war:

„Nicht lange dauerte es, und der große Heldenkampf war mir zum größten inneren Erlebnis geworden. Von nun an schwärmte ich mehr und mehr für alles, was irgendwie mit Krieg oder doch mit Soldatentum zusammen hing.“ (1xiv)

Wehmütig schaute der junge Hitler regelmäßig in Richtung des deutschen Kaiserreiches, wenn ihm die eigene erbärmliche Lage wieder einmal bewusst wurde. So wie er auf der einen Seite den Nachbarn im Norden glorifizierte — sich anlehnend an das idealisierte Kindheitsbild von edlen deutschen Helden, welche die deutsche Nation durch Krieg zusammenschweißten —, ließ er andererseits kein gutes Haar an der Habsburger Monarchie. Sein Elend machte er unter anderem an der ethnischen Struktur des Vielvölkerstaates fest.

Der übersteigerte Nationalismus seiner Zeit traf mit Hitler einen Suchenden und vereinnahmte ihn schnell. Hitlers Weltbild bekam feste Strukturen und die dort enthaltene Überhebung des eigenen Volkes, der „eigenen Rasse“, implizierte das Herabschauen auf und Geringschätzen der anderen Völker und Kulturen. 

Mit einer solchen Haltung, welche das Potenzial bot, die vermeintlich wahren Schuldigen gesellschaftlicher Verhältnisse zu benennen und rücksichtslos zu bekämpfen — wohinter allerdings der Konflikt mit den ganz eigenen Schuldgefühlen steckt —, war auch der Hass auf diese erkannten Feinde, „die Schuldigen“, entfachbar. Dieser Hass und seine Ursachen wird noch näher untersucht werden.

War Hitlers Wesen das eines potenziellen Führers?

Führer — nicht zwangsläufig gleichstellbar mit Psychopathen, das sei erneut betont — entstehen dadurch, dass sie von Menschengruppen als solche wahrgenommen und behandelt werden. Es ist also eine Frage der Perspektive einerseits und der Akzeptanz andererseits.

In Führern erkennen Menschen, beladen mit ihren Schuldgefühlen, einen Idealtypus. Sie schauen auf zu ihnen. Romantisieren sie, blenden deren Schwächen aus und bewundern Eigenschaften dieser Menschen, die sie gern an sich selbst sehen würden. Wünsche und Träume werden in die Persönlichkeit des Führers hinein projiziert. Die Angehimmelten werden zu Übermenschen stilisiert — zur Rettern, gar zu Göttern in Menschengestalt. Darin liegen aber auch die nicht erfüllbaren und logischerweise später enttäuschten Erwartungshaltungen der die Führung Suchenden. Das Bild eines Führers stellt also eine Projektion dar.

Übermenschen werden also aus einer Gemeinschaft heraus geboren. Es ist ein Tun und Tun lassen. Dieses Tun läuft auf unterbewussten Ebenen ab. Die Angst der Führer wie der Geführten — eine Angst vor der Zerstörung von Illusionen — verhindert, dass sich die Beteiligten des emotionalen, des Unterbewussten, welches da steuert, bewusst werden. Das versperrt aber auch allen die Erkenntnis der sich daraus ergebenden Abhängigkeiten.

Führer werden schnell überfordert, wenn die Geführten diese Führer letztlich instrumentalisieren, um der eigenen Verantwortung zu entfliehen. Auch die politischen Führer der bundesrepublikanischen, deutschen Gegenwart sind permanent überfordert. Aber sie wurden und werden immer wieder gewählt. Die Mehrzahl der Menschen lebt bei jeder neuen Wahl in der märchenhaften Illusion, dass ihre gewählten Führer anders als sie selbst wären. Und entsprechend werden sie auch immer wieder enttäuscht. Aber sie lernen nicht aus der wertvollen Erfahrung der Enttäuschung. Enttäuschung meint schließlich, dass die Täuschung offenbar wurde und nicht mehr wirken kann. Stattdessen lassen sie sich lieber aufs Neue täuschen, delegieren Aufgaben erneut an Menschen, die diese nicht erfüllen können. So zieht die Projektion, die nicht selbst erfüllbaren Erwartungen an andere Menschen zu delegieren, immer neue Kreise.

Letztlich führen Führer nicht nur, sondern sie werden auch von ihrer Gefolgschaft geführt. Führer und Gefolgte sind in Ideologien vereint. Wenn Ideologien ausschließlich sind — und das sind sie in deren Selbstverständnis immer —, dann bekämpfen sie zwangsläufig jede Abweichung von dieser. Und es ist dabei egal, ob sich die Abweichung in einer weiteren Ideologie oder schlicht Ideologiefreiheit manifestiert. Von Machtsystemen vereinnahmte Menschen sind schnell bereit, sich „attraktiven“ Ideologien anzuschließen. Erschaffen aber tun sie diese Ideologien nicht.

Im Gegensatz dazu verfügen Psychopathen über ihre ureigenen Ideologien als vermeintlich objektive, absolute Wahrheit. Aus der Erhebung vermeintlich exklusiver Hoheit über die „objektive Wahrheit“ folgt ein arrogantes Herabschauen auf die Mitmenschen. Für diese, aus seiner Sicht unvollkommenen, für Führung und Lenkung ungeeigneten Menschen, die letztlich die Masse der Bevölkerung stellen, leitet der Psychopath gar eine innerliche Pflicht zur Fürsorge ab. Eine Fürsorge, welche die Betroffenen gar nicht erst fragt, ob sie dieser zuteil werden möchten oder nicht. Der Psychopath meint, es eh besser zu wissen.

Adolf Hitler konnte schon deshalb kein tatsächlicher Führer, im positiven Sinne des Wortes gemeint, sein, weil er Führung in der Kindheit nicht erfuhr. Er erfuhr Dressur, der er sich zunehmend widersetzte. Die ihn abgöttisch liebende Mutter konnte Adolf auch nicht führen, weil sie sich dem Ehemann unterwarf. Als Adolfs Vater im Jahre 1903 unerwartet verstarb, genoss der 14-jährige die ebenso unerwarteten Freiheiten. Aber dieser wichtige Aspekt der Sozialisierung, empathisch zu führen und geführt zu werden und dabei verantwortungsvoll Grenzen zu erkennen, blieb ihm verwehrt (7).

Hitler hat keine eigene Ideologie entwickelt, sondern Ideologien übernommen. In einem von Psychopathen gelenkten Machtkonstrukt war er schon deshalb als Führerpersönlichkeit nur zweite Wahl. Und tatsächlich lebte er als „Führer des Großdeutschen Reiches“ auch nur diese zweite Wahl. Er lebte diese Rolle zweifellos unter Nutzung psychopatischer Verhaltensweisen. Das hat ihn trotzdem nicht dazu befähigt, in einer ganzheitlichen Persönlichkeit ein Psychopath zu sein. Aber zum Hass war er befähigt, und ebenso war er befähigt, seinen Hass zu verbreiten.

Man kann sagen, dass Hitler ein Paradebeispiel dafür ist, was Ideologien in gespaltenen, traumatisierten Persönlichkeiten anrichten können. Solche Menschen können den Hass auf sich selbst — zuvor hervorgerufen durch das vermeintlich schuldbeladene eigene Versagen — über die Ideologie nach außen kanalisieren. Womit sie sich unbewusst von ihrer Schuld „reinzuwaschen“ glauben.

Auf der Suche nach Schuldigen

Was also waren das für Ideologien, die Hitler Halt gaben? Stellen wir das erst einmal zurück. Hitler benannte zuerst die aus eigenem Erleben bekannten sozialen Missstände der Habsburger Monarchie, was da waren: „Hunger“, „abstoßende Armut“, „Wohnungselend“ (1xv).

Im ersten Ansatz benennt Hitler in „Mein Kampf“ subjektiv erkannte Mängel, ohne diese an gesellschaftlichen Gruppen als Verursacher festzumachen. Die Mängel zeichnet er unscharf. Das widerspiegelt den Dissenz zu den Idealen, an denen er sich seit der Kindheit festgehalten hat. Ideale, die, was ihnen eigen ist, mehr oder weniger realitätsfern sind — eine märchenhafte Gesellschaft fleißiger, edler Menschen mit gerechten Herrschern.

Von Hitler erkannte Mängel aus seiner Wiener Zeit kommen äußerst schwammig daher und sind, auch und besonders durch sein späteres Erleben, nachträglich emotional aufgeladen: „nationale Gleichgültigkeit“, „staatsfeindliches Verbrechertum“, „grundsätzliche Mängel im Wirtschafts- und Kulturleben“.  Ebenso unscharf geht er dann zur Benennung von Schuldigen über – zuerst und grundsätzlich die „gedankenlose Mitwelt“ und „ihre Mitmenschen“ (1xvi).

Als in Schuldkategorien sozialisierter Mensch tat Hitler im ersten Anlauf damit das, was heute gleichermaßen sozialisierte Menschen ganz ähnlich tun. Sie versuchen das auf dem eigenen Ego lastende Schuldgefühl zu verlagern und suchen also im Außen nach Schuldigen.

Dafür spähen solche Menschen bei den Betreffenden ganz gezielt deren subjektiv so wahrgenommenes Fehlverhalten aus und reduzieren die Komplexität jener Persönlichkeit auf den vorgeblichen Mangel. Aber sie sind dabei unpräzise — sowohl bei der Beschreibung des vorgeworfenen Fehlverhaltens als auch bei der Gruppe oder Person, die damit beschuldigt werden. Wie gesagt, ist das ein Verhalten, das sich nicht auf eine bestimmte Ära in den vergangenen Jahrhunderten beschränkt. Es drückt sich aus in „die da oben“, „die Herrschenden“, „die Regierung“ oder im allgemeinsten, gern verwendeten Fall einfach im „Die“. Die Pauschalisierung gibt die emotional getrübte Stimmung wieder und ersetzt die mühselige Differenzierung.

Auch Hitlers grundsätzliche Unschärfe bei der Bestimmung von Mängeln und deren Ursachen ist daher überhaupt keine besonders spezielle Eigenart „des Führers“ gewesen. Es spiegelt vielmehr eine auch heute breit anzutreffende Stammtischmentalität, bei der lustvoll politische Versager verbal „abgeschlachtet“ werden. Das wiederum bedeutet, dass Hitler mit dieser inhaltlichen Ausfüllung seiner Rhetorik voll den Nerv des Volkes traf. Wollen wir naiverweise davon ausgehen, dass die diesbezügliche Empfänglichkeit heute nicht mehr gegeben wäre?

In Schuld gefangen sind wir dazu verdammt, immer wieder andere, neue Schuldige aufzuspüren. Ansonsten bleibt uns nur, die vermeintliche Schuld abzutragen, auszugleichen, zu bezahlen, ja zu büßen. In solch einem Denken verhaftet, können wir nicht glücklich etwas hinnehmen und annehmen, weil in uns sofort die Pflicht zu einer Wiedergutmachung aufsteigt. Und so wie wir Menschen in dieser Art und Weise denken, so funktioniert dann logischerweise auch die Matrix, das systemische Konstrukt der Gesellschaft.

Wiederum lassen sich Parallelen zur Gegenwart ziehen. Wenn es darum geht, Menschen zu manipulieren, wird auch im Deutschland des 21. Jahrhunderts mit solchen diffusen wie emotionsstarken Schlagwörtern hantiert, die „gut klingen“, etwas in uns ansprechen, vor allem Unzufriedenheit, um dann Befindlichkeiten zu wecken, die sich in eine Richtung weg von der Macht, die da mit uns spielt, bewegen sollen. Es sind solche Schlagwörter, die uns „über das Stöckchen springen lassen“.

Auf jeden Fall wird Hitler im Falle „der Schuldigen“ auch in seinen weiteren Betrachtungen in „Mein Kampf“ nur bedingt konkret und „nebenbei“ erfahren wir, dass es zumindest auch in der Hauptstadt der Habsburger Monarchie eine offenbar mitgliederstarke und gut organisierte Sozialdemokratische Partei wie auch Gewerkschaftsbewegung gab, welche der Autor von „Mein Kampf“ anfangs in Symbiose verknüpft ansah. Als 17-jähriger kam er damit erstmals in Berührung. Man kann nun wirklich nicht sagen, dass Hitler vor seiner Karriere als „Der Führer“ unpolitisch gewesen wäre.

Gewerkschaften und Sozialdemokratie in Wien aus Sicht Hitlers

Hitlers sich prägende soziale Einstellung würde später in den Namen der Partei einfließen, zu deren Führer er sich aufschwang. Sozialismus und Sozialdemokratie erfuhren in seiner Betrachtung erst im Laufe der Zeit eine Differenzierung:

„So war mir im Alter von siebzehn Jahren das Wort »Marxismus« noch wenig bekannt, während mir »Sozialdemokratie« und »Sozialismus« als identische Begriffe erschienen.“ (1xvii),

um fortzusetzen:

„Hatte ich bis dorthin die sozialdemokratische Partei nur als Zuschauer bei einigen Massendemonstrationen kennengelernt, ohne auch nur den geringsten Einblick in die Mentalität ihrer Anhänger oder gar in das Wesen der Lehre zu besitzen, so kam ich nun mit einem Schlage mit den Produkten ihrer Erziehung und »Weltanschauung« in Berührung.“ (1xviii)

Zu jener Zeit schlug Hitler sich als Bauhelfer durch, und die Umstände, von denen er direkt betroffen war, hätten eigentlich eine Empfänglichkeit für die Inhalte der Gewerkschaftsbewegung vermuten lassen können:

„Es war schon von Anfang an nicht sehr erfreulich. Meine Kleidung war noch etwas in Ordnung, meine Sprache gepflegt und mein Wesen zurückhaltend. Ich hatte mit meinem Schicksal noch so viel zu tun, dass ich mich um meine Umwelt nur wenig zu kümmern vermochte. Ich suchte nur nach Arbeit, um nicht zu verhungern, um damit die Möglichkeit einer, wenn auch noch so langsamen, Weiterbildung zu erhalten.“ (1xix)

„Noch etwas in Ordnung“ — noch war sie es, seine Kleidung. Hitler muss in jenen Jahren, 1908 und vor allem 1909, ziemlich heruntergekommen gewesen sein. Er teilte das Schicksal unzähliger ungelernter Hilfskräfte, die sich von einer erbärmlich bezahlten Anstellung zur nächsten schleppten. Allerdings griffen die damals erstaunlich agilen Agitatoren der Gewerkschaftsbewegung genau jene Ideale Hitlers an, an die er sich klammerte, mit denen er sich identifizierte. Diese Agitatoren warben auch recht offensiv um neue Mitglieder. Erfahrungsgemäß sind junge Menschen besonders begeisterungsfähig. Dummerweise trafen aber die Gewerkschaftsaktivisten auf einen jungen Mann, der ideologisch schon ziemlich festgelegt war. Zumal das, was ihm da angeboten wurde, weit über sozialdemokratische Ideen hinausging:

„Jedenfalls war das, was ich so vernahm, geeignet, mich aufs äußerste aufzureizen. Man lehnte da alles ab: die Nation, als eine Erfindung der »kapitalistischen« — wie oft musste ich nur allein dieses Wort hören! — Klassen; das Vaterland, als Instrument der Bourgeoisie zur Ausbeutung der Arbeiterschaft; die Autorität des Gesetzes als Mittel zur Unterdrückung des Proletariats; die Schule, als Institut zur Züchtung des Sklavenmaterials, aber auch der Sklavenhalter; die Religion, als Mittel der Verblödung des zur Ausbeutung bestimmten Volkes; die Moral, als Zeichen dummer Schafsgeduld usw. Es gab da aber rein gar nichts, was nicht in den Kot einer entsetzlichen Tiefe gezogen wurde.“ (1xx)

Wir können unschwer erkennen: Die Probleme der Gesellschaft aus der Existenz ausbeutender und ausgebeuteter Klassen zu erklären, kam bei Hitler äußerst schlecht an, standen sie doch diametral zur selbst verfolgten Ideologie, die ja seinen Halt darstellte. Er fühlte sich geradezu persönlich angegriffen. Er hasste diese Ideen, die sein Weltbild zu zerstören drohten, und er hasste die Menschen, die solche Ideen vertraten. Hitler neigte zu Jähzorn, und entsprechend hoch her muss es in den „Diskussionen“ gegangen sein, die er mit den klassenbewussten Genossen führte. Vergessen wir nicht, dass er gerade einmal 18 Jahre alt war, als er sich mit ihnen anlegte. Ein Spiel, das sich seinen eigenen Aussagen zufolge mehrfach wiederholte:

„Am Bau aber ging es nun oft heiß her. Ich stritt, von Tag zu Tag besser auch über ihr eigenes Wissen informiert als meine Widersacher selber, bis eines Tages jenes Mittel zur Anwendung kam, das freilich die Vernunft am leichtesten besiegt: der Terror, die Gewalt. Einige der Wortführer der Gegenseite zwangen mich, entweder den Bau sofort zu verlassen oder vom Gerüst hinunterzufliegen. Da ich allein war, Widerstand aussichtslos erschien, zog ich es, um eine Erfahrung reicher, vor, dem ersten Rat zu folgen.“ (1xxi)

Hitler begann sich intensiver mit der Sozialdemokratie, dem Sozialismus und dem Marxismus zu befassen. Er arbeitete im Buch — selbstredend voreingenommen und daher selektiv herangehend — deren inhärenten Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit, zwischen Worten und Taten heraus. Dass er die von ihm selbst verfolgte Ideologie auf die prinzipiell gleiche Weise, nur eben wohlgesonnen „behandelt“, ist ihm dabei nicht bewusst. Seine Kritik ist hochgradig emotional, unterstellt dem sozialdemokratischen Gegner niedere Beweggründe und berechtigt ihn, Hitler, schon deshalb diese erbarmungslos zu bekämpfen. Diese Entmenschlichung seiner ihn in seinem Selbst bedrohenden Gegner wird uns noch sehr oft begegnen. 

Doch ist ihm die soziale Schieflage zweifellos bewusst und er sieht die Notwendigkeit ihrer Beseitigung; allerdings im Rahmen „seines“ Systems:

„Millionen von Arbeitern waren sicher in ihrem Inneren anfangs Feinde der sozialdemokratischen Partei, wurden aber in ihrem Widerstande besiegt durch eine manches Mal denn doch irrsinnige Art und Weise, in der seitens der bürgerlichen Parteien gegen jede Forderung sozialer Art Stellung genommen wurde.“ (1xxii)

Um fortzusetzen:

„Die einfach bornierte Ablehnung aller Versuche einer Besserung der Arbeitsverhältnisse, der Schutzvorrichtungen an Maschinen, der Unterbindung von Kinderarbeit sowie des Schutzes der Frau wenigstens in den Monaten, da sie unter dem Herzen schon den kommenden Volksgenossen trägt, half mit, der Sozialdemokratie, die dankbar jeden solchen Fall erbärmlicher Gesinnung aufgriff, die Massen in das Netz zu treiben. Niemals kann unser politisches »Bürgertum« wieder gut machen, was so gesündigt wurde.“ (1xxiii)

Im Ergebnis revidierte Hitler seine ursprüngliche Meinung, dass Sozialdemokratie und Gewerkschaftsbewegung untrennbar miteinander verknüpft wären:

„Da ich sie [die Gewerkschaften] als einen unzertrennlichen Bestandteil der sozialdemokratischen Partei an sich ansah, war meine Entscheidung [vor]schnell und — falsch. […] Mit zwanzig Jahren hatte ich unterscheiden gelernt zwischen der Gewerkschaft als Mittel zur Verteidigung allgemeiner sozialer Rechte des Arbeitnehmers und zur Erkämpfung besserer Lebensbedingungen desselben im einzelnen und der Gewerkschaft als Instrument der Partei des politischen Klassenkampfes.“ (1xxiv)

Hitlers Erkenntnis begleitete allerdings ein Trugschluss. Denn jede Institution lässt sich durch Macht instrumentalisieren. Gewerkschaften sind auch deshalb eines bis zum heutigen Tage geblieben: Instrument der Parteien des politischen (Klassen-)Kampfes. Die Frage nun lautet: welcher Parteien? Und die nächste Frage baut auf dieser auf: im Interesse welcher politischen Kräfte?

Bleiben Sie bitte schön aufmerksam, liebe Leser.

  • >>> Teil 4 der Artikelreihe wird im Dezember veröffentlicht.

Anmerkungen und Quellen

(Allgemein) Dieser Artikel von Peds Ansichten ist unter einer Creative Commons-Lizenz (Namensnennung – Nicht kommerziell — Keine Bearbeitungen 4.0 International) lizenziert. Unter Einhaltung der Lizenzbedingungen — insbesondere der deutlich sichtbaren Verlinkung zum Blog des Autors — kann er gern weiterverbreitet und vervielfältigt werden. Bei internen Verlinkungen auf weitere Artikel von Peds Ansichten finden Sie dort auch die externen Quellen, mit denen die Aussagen im aktuellen Text belegt werden. Letzte Überarbeitung: 5. November 2024.

(Allgemein) Die Artikelreihe „Hitlers Kampf und sein Weg zur Macht“ fußt auf der vor Jahren veröffentlichten Reihe „Lesungen aus einem verbotenen Buch“. Die ursprünglichen Texte, bestehend aus acht Artikeln, wurden umfassend überarbeitet — sowohl inhaltlich als auch redaktionell. Außerdem fanden sie ihre Fortsetzung in weiteren Artikeln, die letztlich in eine unter einer Creative-Commons-Lizenz verfügbaren Buchedition (online) münden werden.

(1 bis 1xxiv) Mein Kampf, Erster Band – Eine Abrechnung; Adolf Hitler; 2. Kapitel: Wiener Lehr- und Leidensjahre, S. 20; Zwei Bände in einem Band; ungekürzte Ausgabe; Zentralverlag der NSDAP., Frz. Eher Nachf., G.m.b.H., München; 851.–855. Auflage 1943; (1i) S. 23; (1ii) S. 25; (1iii, 1iv) S. 20/21; (1v) S. 23; (1vi)  S. 24; (1vii, 1viii) S. 27/28; (1ix, 1x, 1xvi) S. 28; (1xi, 1xii) S. 29; (1xiii) S. 31; (1xiv) S. 4; (1xv) S. 27 bis 30; (1xvii bis 1xix) S. 40; (1xx, 1xxi) S. 41/42; (1xxii, 1xxiii) S. 47/48; (1xxiv) S. 48/49

(2) 11.01.2010; http://www.zeit.de/online/2006/20/Schreiner; Artikel hinter Bezahlschranke

(3) 11.05.2006; taz archiv; Ulrike Winkelmann; Wer nicht arbeitet, wird kontrolliert; http://www.taz.de/!434214/

(4) 01.05.2019; EKD; Arbeit in der Bibel; https://www.ekd.de/best-of-bible-arbeit-in-der-bibel-45698.htm

(5) 1895; August Bebel; Die Frau und der Sozialismus; Kapitel 21: Die Heranziehung aller Arbeitsfähigen zur Arbeit; https://www.projekt-gutenberg.org/bebel/frausoz/frau2111.html; abgerufen bei Projekt Gutenberg: 07.10.2024

(6) Dokument mit Kündigung von Hitlers festem Wohnsitz vom 22. August 1909, nachfolgend war er über Monate mit keinem Wohnsitz registriert; https://natedsanders.com/Adolf-Hitler-Signed-and-Handwritten-Police-Document–LOT26390.aspx; abgerufen: 22.05.2019

(7) 2007; context politik; Roland Detsch; Adolf Hitler; http://www.cpw-online.de/kids/adolf_hitler.htm

(Titelbild) Volksempfänger, Mein Kampf; Spengler Museum Sangerhausen; 06.08.2007; Autor: Giorno2 (Wikimedia); https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Spengler_Museum_Sangerhausen_4.jpg; Lizenz: Creative Commons 4.0

Von Ped

3 Gedanken zu „Hitlers Kampf und sein Weg zur Macht (3) — Jugendjahre“
  1. Lieber Peter,

    ich weiß nicht, wie weit Sie mittlerweile im Studium des Buches weitergekommen sind, aber sie werden sich wundern wie realitätsnah Adolf Hitler die wirtschaftlichen Zusammenhänge der skrupellosen Ausbeutung und der abhängigen Beschäftigung beschreibt. Als ich vor vielen Jahren das Buch gelesen habe, war ich erstaunt darüber, wie viele Passagen, heute in der BILD abgedruckt, von vielen Menschen als aktuelle Tatsachenbeschreibung unserer Gesellschaft empfunden würde. Viele würden zustimmend nicken und sagen, „da sagt endlich mal jemand die Wahrheit!“. Man dürfte natürlich nicht dazu schreiben, dass diese Worte von A. Hitler stammen. Vor allem seine Beschreibung darüber, warum überhaupt Aktiengesellschaften erfunden wurden, trifft des Pudels Kern!

    Man muss nur bereit sein, vorurteilsfrei darüber nachzudenken.

    Ihren ersten 3 Teilen kann ich nur 100% zustimmen.

    Bemerkenswert ist in unserer heutigen, demokratischen Gesellschaft die Tatsache, dass sich unsere Mächtigen gerne ähnlicher Mittel und Werkzeuge zur Herrschaft bedienen, wie die Mächtigen während der Zeit zwischen 1933 und 1945. Diese Zeit aber rigoros offiziell verteufeln. Ich nenne da nur Propaganda (Mainstream-Manipulation) über Medien der Machteliten, und vor allem die Indoktrination der Kinder bereits im Kindergarten und möglichst bereits ab der Geburt. Und die Verherrlichung der Arbeit (natürlich nur für das Volk!!! – und da vor allem für Hartz IV-Empfänger).

    Einfach herrlich!

    Vielen Dank für die Recherche.

    Herzliche Grüße,
    Thomas

  2. Hätte ein narzißtisch schwer gestörter, bösartiger doch eloquenter Psychopath in Hitlers Position noch mehr Schaden angerichtet? Vermutlich nicht, da man einem solchen in viel größerem Maße die Gefolgschaft verweigert hätte als die vielen Normopathen im Volk, die meinten, „dem Führer entgegenarbeiten zu müssen“, da sie ihn als einen der Ihren ansahen. Jene waren es dann auch, die bei Denunziationen und im Holocaust die nötige Effizienz herstellten; mit puren Sadisten, wenn es sie denn in großer Zahl gegeben hätte, wäre das gar nicht durchführbar gewesen.
    Es ist vollkommen richtig, anzunehmen, daß eine andere Personalie als Hitler kaum ein Unterschied in den Geschehnissen gewesen wäre, denn die Zahl dieser Leute, die unter den gegebenen Umständen wie Hitler agiert hätten, ist Legion.
    Es erhebt sich aus allem die Frage: Was müßte getan werden, um Wiederholungen auszuschließen, um Totalitarismen, gleich welcher Art unmöglich zu machen, um aus einem Volk immer nur die besten Eigenschaften hervorzuholen und die schlechten niemals zum Ausagieren zu bringen? Monarchie, Demokratie, supranationale Zusammenschlüsse, Abgrenzung mit möglichst homogenen Ethnien, Durchsetzung internationaler Standards, Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten, nationale Währungen, Weltleitwährungen …
    Bevor die letztgültige Antwort gefunden ist, heißt es wohl, daß der einzelne die Grenze für staatliche Übergriffigkeiten und Totalitarismus sein muß. Seien also wir die Grenze – jeder für sich!
    Herzlich, Steffen Duck!

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