Die ersten Monate des Jahres 1919 waren jene, in denen sich Adolf Hitler seine politische Chance erarbeitete.
Die Frage steht noch immer im Raum, wie der Einstieg des abgewiesenen Kunstmalers und unauffälligen Gefreiten in die hohe Politik möglich wurde. Wie und durch wen öffneten sich Türen? Welche Netzwerke bewerkstelligten das? Es muss etwas gegeben haben, das Hitler für andere nützlich und weitergehend interessant machte. Und es muss Leute gegeben haben, die gezielt nach Menschen, wie Adolf Hitler einer war, suchten.
Als Hitler zu reden begann
Das Jahr 1919 ist für die politische Laufbahn des Adolf Hitler dermaßen richtungsweisend, dass es geboten ist, ins Detail zu gehen, auch einiges zu wiederholen, um halbwegs verstehen zu können, wie aus dem unscheinbaren Gefreiten ein augenscheinlich charismatischer Führer hervorgehen konnte.
Im vergangenen Kapitel haben wir untersucht, ob die These, dass Hitler gegen Ende des Weltkrieges zeitweise den Ideen der Arbeiter- und Soldatenräte offen gegenüber stand und gar mit den Kommunisten sympathisierte, belastbar ist. Als Indizien für diese These gelten seine Teilnahme an den Trauerfeierlichkeiten für den ermordeten bayerischen Ministerpräsidenten Kurt Eisner und die Wahl Hitlers in Gremien der Soldatenräte. Und, dass er selbst recht minimalistisch über diese Zeit sprach.
Doch ließ sich feststellen, dass diese Indizien nicht belastbar sind. Stattdessen rückte eine andere These in den Blickpunkt. Eine, nach der Hitler sich in den Fokus seiner Vorgesetzten schob und sich damit für höhere Weihen empfahl. Über diese Weihen spricht man in der Regel nicht, aber sie verändern den Menschen. Hitler kam wohl im Januar oder Februar 1919 zum ersten Mal mit der anderen Seite der Macht in Berührung. Während er sich bis dahin bereitwillig, ja eifrig unten in der Hierarchie einordnete, wurde ihm nun die Möglichkeit geboten, so die Sicht des Autors, die andere, die aktive Seite der Macht kennenzulernen. Zum ersten Male durfte er gestalten und verdient hatte er sich das mit der bedingungslosen Loyalität gegenüber seinen Vorgesetzten.
Hitler war nun selbstgefühlt nicht mehr nur ein Rädchen im Machtgetriebe, er war gefragt, bekam Aufmerksamkeit. Weil er etwas wichtiges lieferte — und zwar Informationen. Adolf Hitler hatte das Gen in sich, lang und ausladend zu reden. Wenn man ihn ließ. Wie hatte doch der direkte Vorgesetzte Hitlers im Ersten Weltkrieg später erklärt?
„Ich sehe einmal davon ab, dass er nach den Friedensbegriffen eines aktiven Offiziers keine besonders gute Figur machte; seine Haltung war nachlässig und seine Antwort, wenn man ihn fragte, alles andere als militärisch kurz.” (1)
Dieses Gen, ausschweifend zu erzählen, wurde nun freigelassen, weil es als äußerst nützlich erachtet wurde. Wer viel erzählt, liefert unter Umständen auch mehr Informationen. Hitler wurde zu einem der sicher zahlreichen Informanten für den Machtapparat der sich gerade aufstellenden deutschen Berufsarmee, der Reichswehr. Diese militärische Institution übernahm die Gestalter, Strukturen und inhärenten Ideologien der geschlagenen kaiserlichen Armee. Wir sollten uns die gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen Hitlers Wandlung vom Mitläufer zum Aktivisten stattfand, noch etwas genauer anschauen.
Des Kaisers Generäle als Generäle der Republik
Jene, die Deutschland in den Ersten Weltkrieg führten: Sie behielten ihren Einfluss auch nach der Weltkriegsniederlage und dem Fall der Monarchie. Eine Fassade der Demokratie verschleierte, dass die Machtverhältnisse in Deutschland nicht umgeworfen worden waren. Das Militär, eng verwoben mit Politikern und Ideologen, behielt seine Machtposition und schlug gemeinsam mit und im Auftrag der republikanischen, von Sozialdemokraten geführten Regierung die Revolution in Deutschland blutig nieder.
Zum Volksbeauftragten für Heer und Marine war in den Wirren der Novemberrevolution der Sozialdemokrat Gustav Noske ernannt worden. Noske war ein lupenreiner Opportunist und Karrierist. Seine politische Ausrichtung lag im Grunde auf einer Ebene mit denen der politischen Eliten des Kaiserreiches. Er war es, der unter dem Slogan
„Meinetwegen. Einer muss der Bluthund werden. Ich scheue die Verantwortung nicht.“ (2)
Freikorps, also Soldaten der ehemals kaiserlichen Armee, auf Demonstranten hetzte, was zu einem Blutbad mit allein 3.000 Toten in Berlin führte (2i).
Noske trug die wahre Demokratie zu Grabe, bevor sie überhaupt etabliert war. Ein Hindernis für Noskes unmittelbar folgende Ernennung zum ersten Reichswehrminister einer fassadendemokratischen Regierung — noch bevor die Weimarer Republik überhaupt gegründet worden war — war das nicht. Denn 1919 wurde Noske mit dem Aufbau der neuen Reichswehr beauftragt (3) — interessanterweise in jenen Tagen, in denen sich Hitler neue Wege aufzeigten. In jenen Tagen, in denen sich die „alten“ politischen und militärischen Eliten neu formierten.
Das ist wirklich aufschlussreich: Der Sozialdemokrat Gustav Noske und Adolf Hitler waren Brüder im Geiste. Die Nationalsozialisten erinnerten sich später auch an Noskes „Verdienste“:
„Göring versicherte ihm voller Anerkennung am 6. Februar 1933: »Einen Mann wie Sie schickt man nicht fort. Sie sind der einzige von den früheren Leuten, deren Verdienste wir anerkennen.« Und beurlaubte Noske lediglich bis zu seiner bevorstehenden Pensionierung. Hitler nannte ihn »eine Eiche unter diesen sozialdemokratischen Pflanzen«.“ (2ii)
Dem Reichswehrminister Noske formal unterstellt war Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg. Hindenburg war seit dem 29. August 1916 Chef des Generalstabes des Feldheeres und damit einer der Hauptverantwortlichen für Deutschlands Teilhabe am Weltkrieg gewesen. Nun ist man geneigt anzunehmen, dass mit der Novemberrevolution auch Hindenburgs Tage an der Spitze des deutschen Heeres gezählt gewesen wären. Mitnichten, er blieb in dieser Funktion bis zum 3. Juli 1919 (4).
Hindenburg im Ersten Weltkrieg zur Seite gestellt war Erich von Ludendorff. Beide bestimmten letztlich auch die deutsche Politik, nicht etwa Wilhelm II., der deutsche Kaiser. Ludendorff war leidenschaftlicher Verfechter einer Ostexpansion. Deutschlands Bevölkerung bräuchte neuen Lebensraum im Osten, um sich ernähren zu können. Das waren exakt die gleichen politischen Vorstellungen, die Hitler wenig später vertreten würde (5). Tatsächlich würde Ludendorff ab 1920 auch praktisch zum Verbündeten Hitlers werden und mit ihm im November 1923 gegen die Republik putschen (6).
Bezeichnenderweise und symptomatisch für die fassadendemokratische Weimarer Republik waren es ausgerechnet die ausgemachten Demokratiehasser Hindenburg und Ludendorff, die schließlich im Jahre 1925 zur Wahl eines neuen Reichspräsidenten kandidierten (6i). Die Deutschen blickten in den Spiegel und wählten dann auch in ihrer Mehrheit den Feldherrn Hindenburg.
Was aber dabei auch zum Ausdruck kommt: So wie es kein gegenüber der Politik neutrales kaiserliches Heer gab, so galt das auch für die aus diesem organisch gewachsene Reichswehr. Das Militär war und blieb ein Machtinstrument und außerdem hatte es stets eine ideologische Ausrichtung. Es war politisch und parteiisch im Sinne real existierender Macht strukturiert, wie es selbst einen Teil dieser Macht darstellte.
„Die Arbeitsweise der alten Militärführung war dem ersten Reichswehrminister Noske dagegen bestens bekannt und vertraut. Die dort ansässigen Offiziere und hochrangigen Beamten konnten auf einen funktionstüchtigen Verwaltungsapparat und enge Verbindungen zur zivilen Verwaltung zurückgreifen, machten aber kein Hehl aus der Ablehnung einer Republik. Von Anfang an war allen Beteiligten klar, dass die alte Militärelite eine grundlegende Militärreform und eine Demokratisierung der Armee niemals tolerieren würde. Gerade erst durch die Soldatenräte erstrittenen Zugeständnissen erteilte man seitens der Regierung daher im Nachhinein eine klare Absage.“ (7)
In Berlin tobten bürgerkriegsartige Auseinandersetzungen, die sogenannten Märzkämpfe. Der „Bluthund“ Noske erließ einen Schießbefehl für die praktisch nunmehr Reichswehrverbände, was zu einem Blutbad mit etwa eintausend Todesopfern führte (8). In jenen Tagen beschloss die Weimarer Nationalversammlung das Gesetz über die Schaffung einer vorläufigen Reichswehr. Und diese Reichswehr sollte sich auf die Strukturen und Verbände der kaiserlichen Armee stützen. Jener Armee, deren Auflösung von den Soldatenräten gefordert worden war. In die politischen Aktivitäten zur Schaffung der neuen Reichswehr nach alten Mustern würde Hitler in eben diesen Wochen gezogen werden.
Adolf Hitlers in der Reichswehr
Die politische Spaltung im Deutschland des Jahres 1919 zog sich auch und gerade durch das Militär — aber wohlgemerkt eher in den Mannschaften und teilweise den unteren Offiziersrängen (7i). Bei den revolutionären Unruhen in Deutschland kämpften deutsche Soldaten gegeneinander. Es gab genug Menschen, die nicht freiwillig, so wie Hitler und viele andere junge Männer, in den Krieg gezogen waren. Der Gedanke einer Räterepublik war in den unteren Rängen der Vorläufigen Reichswehr — im März 1919 gegründet als Nachfolger des Deutschen Heeres — sehr populär. 3,8 Millionen mobilisierte Soldaten (9) strömten seit Vereinbarung des Waffenstillstandes von Compiègne zurück in ihre Heimat.
Um auf der Zeitschiene nicht den Überblick zu verlieren, sei noch einmal Hitlers Laufbahn ab dem Ende des Weltkrieges in knapper Form aufgeführt.
Am 21. November 1918 meldete er sich bei der 7. Ersatzkompanie des 2. Bayerischen Infanterieregiments (IR 2) in München zum Dienst zurück. Unmittelbar darauf erfolgte, wohl auf eigenen Wunsch, die Versetzung in das Lager Traunstein — einem zentralen Internierungslager für Zivilisten und Kriegsgefangene. Belegt ist sein Verbleib in dieser Einrichtung bis mindestens Ende Januar 1919. Ab dann verdichten sich die Ereignisse.
Denkbar ist, dass er bis Mitte Februar in Traunstein blieb. Am 12. Februar 1919 wurde er der 2. Demobilisierungskompanie des IR 2 (2. DKdIR2) in der Vorläufigen Reichswehr zugeteilt (10, 11). Trotzdem ist es sehr wahrscheinlich, dass er weiter im Gefangenenlager Traunstein seinen Dienst verrichtete (12). Am 15. Februar wurde er zum Vertrauensmann der Soldatenräte gewählt — das waren Schnittstellen zwischen den damals politisch die Macht ausübenden Arbeiter- und Soldatenräten und dem Militär.
Sofort nach Überstellung in die 2. DKdIR2 übernahm Hitler politische Funktionen. Zwischen dem 13. und 20. Februar fand die erste Tagung des Kongresses der bayerischen Arbeiter-, Soldaten- und Bauernräte in München statt (13). Das passt zur Wahl Hitlers als Vertrauensmann in die Räte. Das ist erstaunlich. Und es lässt annehmen, dass Hitler schon in Traunstein auch für — sagen wir es einmal so — besondere Aufgaben rekrutiert wurde. Wer hatte da ein Auge auf den Weltkriegsgefreiten geworfen?
Die Tagung des Rätekongresses war gerade zu Ende gegangen, da ermordete Anton Graf von Arco auf Valley, zuvor Mitglied der Thule-Gesellschaft, in München den bayerischen Ministerpräsidenten Kurt Eisner (14). Merken wir uns die Thule-Gesellschaft.
Die Trauerfeierlichkeiten und Beisetzung für Kurt Eisner fanden am 26. Februar statt (15). Tags zuvor beschloss der Landessoldatenrat, dass 25 Mann aus Hitlers Kompanie zum Trauermarsch für Eisner abzustellen seien. Und tatsächlich gibt es mehrere Aufnahmen, die nahelegen, dass Hitler Teilnehmer und/oder Beobachter der Feierlichkeiten war, allerdings in Zivilkleidung (16).
Am 6. März beschloss die Nationalversammlung in Weimar das Gesetz über die Bildung einer Vorläufigen Reichswehr (17). Am 7. März schloss das Lager Traunstein, spätestens am 8. März trat Hitler den Dienst in München an. Ab diesem Tag klafft in Adolf Hitlers Biographie eine fünfwöchige Lücke. Bis zum 19. April, an dem er zum Ersatzbataillonsrat der 2. DK des IR 2 gewählt wurde (18). Dann, am 26. April 1919, geschah folgendes:
„Am 26. April 1919 wurde das Hotel »Vier Jahreszeiten« als Sitz der Thule-Gesellschaft von der räterepublikanischen Militärpolizei gestürmt, und etwa 20 Personen wurden festgenommen. Am 30. April wurden sieben in der Gewalt der Militärpolizei befindliche Thule-Mitglieder, darunter Prinz Gustav Franz Maria von Thurn und Taxis und drei weitere Adlige, erschossen. Dieser sogenannte ‚Geiselmord‘ erregte internationales Aufsehen und löste in München einen Aufstand der bis dahin ruhig gebliebenen Bevölkerung aus, der von der Thule-Gesellschaft organisiert wurde und neben dem Einmarsch konterrevolutionärer Freikorps zur Niederschlagung der Räterepublik beitrug.“ (19)
Wie war die Thule-Gesellschaft in das Visier der Räterepublik geraten? Einen Tag später, so berichtet Hitler in „Mein Kampf“, versuchten Angehörige der Militärpolizei der Räterepublik, ihn zu verhaften. Als er nach eigener Aussage seine Waffe zückte, zogen die „Polizisten“ wieder ab (20). Warum wollten „die eigenen Leute“ Hitler verhaften? Außerdem schrieb Hitler:
„Wenige Tage nach der Befreiung Münchens [um den 10. Mai herum] wurde ich zur Untersuchungskommission über die Revolutionsvorgänge beim 2. Infanterieregiment kommandiert. Dies war meine erste mehr oder weniger rein politische aktive Tätigkeit.“ (20i)
Das ist offenherziger, als man es auf den ersten Blick wahrnehmen mag. Denn diese Aussage stützt die These, dass Hitler zwar formal ein Räterevolutionär war. Aber praktisch nutzte er die Funktion, um als Informant für die neue Reichswehr zu arbeiten. Und kurz vor der Zerschlagung der Räterepublik war er damit aufgeflogen.
Dass Hitler — anfangs im Soldatenrat, später in Parteien — Spitzeldienste leistete und erst über diese Leistungen das Interesse der Propagandaabteilung der Reichswehr weckte, war für ihn später kein Thema. In den Wirren der Bairischen Räterepublik dürfte das für von Hitler bespitzelte Kameraden in den Soldatenräten unter Umständen schwere Konsequenzen gehabt haben (21).
Hitler war ganz offensichtlich ein V-Mann gewesen, ein Agent. Womit er seine Loyalität bewiesen hatte. Das wurde belohnt. So erscheint das, was Hitler in seinem Buch schrieb, absolut schlüssig, auch das folgende:
„Schon wenige Wochen darauf erhielt ich den Befehl, an einem ‚Kurs‘ teilzunehmen, der für Angehörige der Wehrmacht abgehalten wurde. In ihm sollte der Soldat bestimmte Grundlagen zu staatsbürgerlichem Denken erhalten.“ (20ii)
Hitlers Teilnahme an diesen ‚Kursen‘, auch ‚Aufklärungskurse‘ genannt, ist belegt (a1). Wir werden das noch gründlicher untersuchen. Doch schält sich hier eine informelle Dreiecksbeziehung heraus, die ebenfalls näher betrachtet werden sollte: Reichswehr — Thule — Hitler. Hatte Hitler damals etwas mit der Thule-Gesellschaft zu tun? Die Bedeutung dieser Vereinigung sollte nicht unterschätzt werden. Eines ist sicher: Mehrere Thule-Mitglieder hatten beste Verbindungen zur Reichswehr.
Die Thule-Gesellschaft
Hitler selbst hat Thule nie thematisiert, obwohl er über Thule-Leute seinen ideologischen Feinschliff bekam. Aber er pflegte 1919 und darüber hinaus enge und vielfältige Kontakte mit Thule-Leuten: Mitgliedern der Thule-Gesellschaft und anderweitig mit dieser verbundenen Aktivisten. Mehrere Namen erwähnte Hitler in „Mein Kampf“ — und damit indirekt Thule: So Dietrich Eckart, Hermann Esser und mehrfach Gottfried Feder (20iii). Diese Personalien werden im weiteren noch ausführlicher betrachtet.
Es ist keinesfalls übertrieben, die Thule-Gesellschaft als mindestens eine der Keimzellen der nationalsozialistischen Bewegung anzusehen. Fünf der im Zuge der Nürnberger Prozesse 1946 als Hauptkriegsverbrecher verurteilten Männer waren Jahrzehnte zuvor mit dieser, anfangs als Geheimbund betriebenen Vereinigung vernetzt:
- Wilhelm Frick — von 1933 bis 1945 Reichsminister des Inneren,
- Julius Streicher — Gründer, Eigentümer und Herausgeber des antisemitischen Hetzblattes „Der Stürmer“ (22),
- Alfred Rosenberg — führender nationalsozialistischer Ideologe und Leiter des Reichsministeriums für die besetzten Ostgebiete,
- Hans Frank — Hitlers Rechtsanwalt und als „Reichsschriftführer“ höchster Jurist im Dritten Reich, später Generalgouverneur in den besetzten polnischen Ostgebieten und der Westukraine (Galizien),
- Rudolf Heß — jahrelanger Stellvertreter Adolf Hitlers im Dritten Reich (23).
Die Thule-Gesellschaft war zutiefst antisemitisch aufgestellt. Der Mörder von Kurt Eisner war kurz zuvor nur deshalb aus der Organisation ausgeschlossen worden, weil man bei ihm jüdische Wurzeln festgestellt hatte (24). Der (weiterbestehende) Vorgänger der Thule-Gesellschaft war der nicht minder antisemitische und als Geheimbund betriebene Germanenorden (25). Dieser Orden besaß ideologisch bereits wesentliche Merkmale des deutschen Faschismus:
„1912 propagierte der Germanenorden eine »arisch-germanische religiöse Wiedergeburt«. Mit dem Ziel einer rassisch reinen deutschen Nation forderte er bereits die Deportation von »Juden, anarchistischen Mischlinge[n] und Zigeuner[n]«. Zu den verwendeten Symbolen gehörte auch das Hakenkreuz.“ (25i)
Die Thule-Gesellschaft betrachtete „den Juden [als] Todfeind des deutschen Volkes“ und behauptete eine „jüdische Weltverschwörung“, die es zu bekämpfen galt. Im Enblem der Gesellschaft war ein Hakenkreuz enthalten. Die Grußformel unter den Mitgliedern lautete „Heil und Sieg“. Als Regeln galten unter anderem „Halte dein Blut rein“ sowie „Bedenke, dass du ein Deutscher bist“ (19i). Der Faschismus in Deutschland war also nicht etwa ein den magisch-diabolischen Fähigkeiten Hitlers entsprungenes Phänomen. Nein, Hitler hat diese Ideologie für sich übernommen und in sein bestehendes Weltbild eingebaut. Selbst die verwendete Symbolik fußt nicht auf seinen Ideen.
Unmittelbar nach dem ohne jedes Blutvergießen errungenen Sieg der Räterevolution in Bayern, am 8. November 1918 (26), gründete die Thule-Gesellschaft den Kampfbund Thule als militärischen Arm. Vor allem dieser beteiligte sich bereits im Dezember 1918 an einem Staatsstreich, der auch die Entführung des jüdischen Sozialisten und damals Ministerpräsidenten Kurt Eisners sowie diverse Terrorakte einschloss (19ii, 27). Rudolf von Sebottendorf, Gründer der Thule-Gesellschaft, erklärte damals:
„Jetzt herrscht unser Todfeind: Juda. […] Jetzt heißt es kämpfen, […] kämpfen, bis das Hakenkreuz siegreich […] aufsteigt.“ (28)
Der Tisch des Faschismus deutscher Prägung war bereits vor Hitlers Erscheinen auf der politischen Bühne reich gedeckt. Selbst das zukünftige mediale faschistische Symbol in der deutschen Presselandschaft war schon existent. Mit Gründung der Thule-Gesellschaft hatte Sebottendorf das Lokalblatt Münchener Beobachter erworben, um es als Organ der Thule-Gesellschaft herauszubringen. Seit dem 9. August 1919 wurde die überregionale Ausgabe als Völkischer Beobachter verkauft (29). Der Betriebsleiter des Völkischen Beobachter, Georg Grassinger, hatte im Laufe des Jahres 1919 erstaunlich ähnlich geartete Funktionen zu erfüllen wie Adolf Hitler. Auch Grassinger war bei Thule, gewähltes Mitglied in einem Soldatenrat, und er war Informant für Thule und die Reichswehr. Schließlich würden sich Grassinger und Hitler mindestens einmal auch persönlich begegnen (30).
Im Folgejahr würde die NSDAP den Völkischen Beobachter kaufen. Finanziert größtenteils von Dietrich Eckart, einem weiteren Thule-Mitglied (31, 32).
Nach der Ermordung Kurt Eisners Ende Februar 1919 spitzten sich die Ereignisse in München und ganz Bayern zu. Auch in Folge dieses Ereignisses kam es zur Gründung der (ersten und zweiten) Bairischen Räterepublik am 7. und dann am 13. April 1919 (33). Gesellschaftlich hatten diese Konstrukte keine ausreichende Unterstützung und waren zum Scheitern verurteilt. In der Gegnerschaft der Räte verbanden sich Reichswehr, faschistoide, ultranationale Verbände, sowie die gerade etablierten Vertreter der neuen sozialdemokratisch geführten, parlamentarischen Strukturen. Gewalt war in den Auseinandersetzungen angesichts der aufgeheizten gesellschaftlichen Stimmung gängiges Mittel zur Erlangung beziehungsweise Bewahrung der Macht.
Im Rahmen der Konterrevolution gegen die Räterepublik spielte die Thule-Gesellschaft eine beachtliche Rolle. Unter ihrem Dach hatten sich fast alle nationalistischen Gruppen darunter auch der Alldeutsche Verband, gesammelt. Schon beim später als Palmsonntagsputsch unternommenen und gescheiterten Versuch vom 13. April, die (erste) Räterepublik zu stürzen (34), hatte es eine Beteiligung der Thule-Gesellschaft gegeben. Nach dem Ausrufen der zweiten Räterepublik griff umgehend ein gut organisiertes Nachrichten- und Spitzelsystem.
„Ihre Aktivisten [der Thule-Gesellschaft] fälschten Stempel der Räteorgane, sie schlichen sich in die bayerische Rote Armee und in die KPD ein. Die gesammelten Informationen wurden an die Regierung in Bamberg weitergeleitet. Die Kuriere fuhren als Eisenbahnbeamte. Der Bahninspektor und offizielle Thule-Vorsitzende Friedrich Knauf (geb. 1873) besorgte die notwendigen Ausweise.“ (28i)
Das war schließlich der Grund, dass nun auch Milizen der Räte gewaltsam gegen Mitglieder der Thule-Gesellschaft vorgingen — siehe auch die bereits erwähnte Erstürmung des quasi Thule-Hauptquartiers, des Münchener Hotels Vier Jahreszeiten (28ii). Doch was in Bezug auf die Thule-Gesellschaft allgemein keine Beachtung findet, sind ihre Verbindungen zur Reichswehr. So jedoch ergibt auch die versuchte Festnahme Hitlers einen Tag später ihren Sinn (siehe weiter oben). Er war zu jener Zeit offiziell mit Funktionen in den Räten betraut, gleichzeitig Informant für die Reichswehr, und damit aber auch eine Figur im informellen Thule-Netzwerk. Um allerdings als Informant erfolgreich sein zu können, musste er einen bestimmten Eindruck erwecken. Er musste sozusagen ein vorgezeichnetes Narrativ bedienen:
„Er wurde auch zum Vertrauensmann der unteren Ränge seines Bataillons gewählt. Dies ist nicht verwunderlich angesichts seiner Kriegsbilanz und des Eindrucks, den seine gelegentlichen Redebeiträge, wenn sie provoziert wurden, machten, die von einem gewissen Maß an intellektueller Leistungsfähigkeit zeugten. Aber seine Wahl ist verblüffend, weil die gesamte Heeresgarnison in München von Eisners Sozialisten regiert wurde, was bedeutet, dass Hitler mit den Linken mitging, was seinen späteren Überzeugungen diametral entgegengesetzt war. Er wurde sogar Mitglied der Propagandaabteilung des Soldatenrates.“ (35)
Dass Hitler in den ersten vier Monaten des Jahres 1919 so auftrat, wie oben beschrieben, ist überhaupt kein Widerspruch. Es war Notwendigkeit, um als verdeckter Ermittler, als Agent Informationen sammeln zu können. Doch am 4. Mai war schließlich die Gefahr für den V-Mann Hitler gebannt, denn die Räterepublik war blutig niedergeschlagen worden. Hitlers Aufgabenspektrum würde nun neu definiert — und das weniger von ihm selbst.
Bereits vier Personen wurden genannt, die mit der Thule-Gesellschaft in Verbindung standen: Dietrich Eckart, Gottfried Feder, Hermann Esser und Georg Grassinger. Mindestens drei von ihnen waren auch für die Reichswehr tätig. Hermann Esser würde bald einer der prägenden Akteure zur Etablierung eines Führerkultes um Hitler werden. Ende Dezember 1918 war er aus dem Heer entlassen worden. Dann geschah Folgendes:
„Er trat der SPD bei und war als Randfigur an der in Kempten vom 7. bis zum 14. April 1919 bestehenden Räterepublik beteiligt. Außerdem war er Volontär der linksgerichteten sozialdemokratischen Zeitung Allgäuer Volkswacht.“ (36)
Reichlich zwei Jahre später würde man im Münchner Bürgerbräukeller von Esser hören:
„Wir fordern die Diktatur eines Mannes, der anstelle der Politik der Gewissenlosigkeit eine Politik der Verantwortlichkeit vor sich und seinem Volke treibt.“ (36i)
Wie lässt sich das miteinander vereinbaren? Hatte es da einen traumatisch herbeigeführten Gesinnungswandel bei Esser gegeben? Wohl kaum — vielmehr finden sich bemerkenswerte Parallelen zu Hitlers Aktivitäten in jener Zeit. Hermann Esser dürfte, so wie Hitler, ein Informant für die Reichswehr gewesen sein. Die Wege beider würden sich bald kreuzen, und dafür sorgten gut vernetzte Leute von der Reichswehr:
„Bereits seit dem 22. April war er [Esser] zum Kommandostab des gegenrevolutionären Freikorps Schwaben in Memmingen gewechselt. Bei der Werbung für dieses zeigten sich erstmals seine rednerischen Fähigkeiten. Dann ging er nach München, wo der Leiter der Nachrichtenabteilung des Reichswehrgruppenkommandos 4, Hauptmann Karl Mayr, vom Juni bis einschließlich August 1919 Propagandakurse mit nationaler und antisozialistischer Tendenz abhalten ließ.“ (36ii)
Das waren eben diese bereits erwähnten „Aufklärungskurse“, die auch Hitler besuchen würde. Hauptmann Mayr würde die beiden dann auch persönlich miteinander bekannt machen (36iii). Hermann Esser würde später neben seiner Funktion als Schriftleiter des Völkischen Beobachter weitere hohe Ämter im Propagandaapparat der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) ausüben (37).
Vom Nachrichten sammeln zum Nachrichten verbreiten
Wir sind im Mai 1919 angelangt. Die Bairische Räterpublik ist zerschlagen, Hitlers Aufgabe als Informant für die Reichswehr die Räte auszuspionieren, ist im Wesentlichen abgeschlossen. Was nicht bedeutet, er hätte nun als Informant ausgedient. Seine Verpflichtung, als V-Mann für die Reichswehr zu arbeiten, hat ihn, was durchaus nicht nebensächlich ist, davor bewahrt, rasch demobilisiert zu werden (38). Schon „wenige Wochen darauf“ erhält er den Befehl — er ist nach wie vor Soldat und Untergebener —, an einem Aufklärungskurs der Reichswehr teilzunehmen (20ii). Was hat dazu geführt? Es mussten zuvor einige Dinge im Großen stattfinden, damit auch der politisch noch unbedeutende Adolf Hitler irgendwann „groß“ werden konnte.
Nachrichtendienste, so wie wir sie heute kennen, erfüllen zwei Aufgaben. Sie sollen Nachrichten beschaffen, aber auch Nachrichten verbreiten. Nachrichten: Nach (jemanden, etwas) richten. Nachrichten, die den jeweiligen Informationsraum kontrollieren und steuern, die im Sinne der Auftraggeber über die Instinkte Menschen kontrollieren wollen. Dabei ist es unerheblich, ob die Nachrichten inhaltlich wahr oder falsch sind. Zweckdienlich müssen sie sein. Das nennt man kurz und knapp Propaganda. All das gilt auch für militärische Nachrichtendienste.
Die Nachrichtenbeschaffung (Aufklärung) in der sich etablierenden Reichswehr mag zufriedenstellend funktioniert haben, aber die Verbreitung geeigneter Nachrichten war in den Wirren der Revolutionszeit ein Problem. Doch blieb man nicht untätig.
Die Vorläufige Reichswehr war in die Reichswehr-Gruppenkommandos 1 bis 4 unterteilt worden (Mittel- und Südost-Deutschland, West-Deutschland, Ostseeküste, Bayern). Das im Mai 1919 geschaffene Reichswehr-Gruppenkommando 4 für Bayern nahm das I. -, II. – und III. bayerische Armeekorps des kaiserlichen Heeres auf. Jedes Gruppenkommando unterstand direkt dem Chef der Heeresleitung (39).
Das Reichswehr-Gruppenkommando (RWGrKdo) 1 mit Sitz in Berlin richtete im April 1919 Propaganda-Lehrgänge ein, die Modellcharakter bekommen sollten. Wohl anknüpfend an diese Lehrgänge wurde am 3. Mai 1919 im Preußischen Kriegsministerium eine Tagung zum Thema „Aufklärung, Fortbildung und Fürsorge im Heere“ abgehalten. Auf dieser Tagung fanden sich Offiziere zahlreicher Truppenteile aus ganz Deutschland zum Austausch über Propagandafragen. Man sah die Notwendigkeit, Propaganda in der Truppe ohne den Einfluss der republikanischen, fassadendemokratischen Ministerien zu betreiben. Was übrigens nichts mit einer „Entpolitisierung“ der Reichswehr zu tun hatte (40).
Zeitlich verzögert durch die Ereignisse bezüglich der beiden Räterepubliken wurde am 11. Mai das Bayerische RWGrKdo 4 eingerichtet. Dieses übernahm zunächst sogar die politische Verwaltung Münchens. Und unmittelbar darauf wurde die Abteilung Ib/P — auch unter Bezeichnungen wie Nachrichtenabteilung, Presse- und Propagandaabteilung oder Aufklärungsabteilung geführt — mit der Aufgabe betraut, politische Aufklärung nach in etwa dem Muster im ReGrKdo 1 (siehe oben) zu betreiben (40i, 41).
Die Leitung der Abteilung wurde einem früheren Generalstabsoffizier, Hauptmann Karl Mayr, übergeben (42). Karl Mayr war damals 37 Jahre alt und ein begabter Nachrichtenoffizier wie Netzwerker, mit Kontakten bis in die Reichswehr-Führung. Er war einflussreiches Mitglied der informellen Vereinigung Eiserne Faust, von Reichswehr-Offizieren gegründet im Sommer 1919, mit dem Zweck der Bekämpfung des „internationalen Marxismus“. Nicht nur dort hielt Mayr engen Kontakt zu einem gewissen Ernst Röhm (43), denn:
Mayr hatte auch eine sehr praktische Verbindung zu Röhm innerhalb der Reichswehr. Der geschichtskundige Leser dürfte sich daran erinnern, dass Ernst Röhm später zum Führer der NSDAP-Sturmabteilungen, der SA, und zeitweilig zweitmächtigsten Mann in der Hierarchie der Nationalsozialisten aufstieg (44).
Ernst Röhm, 1919 32 Jahre alt, war nach Kriegsende als Stabschef der Stadtkommandantur München mit politischen Sicherheitsaufgaben betraut. Zur Niederschlagung der Räterepublik schloss er sich dem Freikorps von Franz Ritter von Epp an. Danach wurde das Freikorps als Brigade Epp in die Vorläufige Reichswehr eingegliedert. In dieser gelangte Röhm in eine Schlüsselstellung. Als Stabsoffizier war er für Verpflegung und Ausrüstung des Freikorps Epp verantwortlich. Den gleichen Aufgabenbereich deckte er nachfolgend und bis Ende 1920 als Chef des Stabs des Stadtkommandanten von München und Offizier für die Abwehr und für politische Angelegenheiten im Stab der Münchner Reichswehr für die Brigade Epp ab (45).
In dieser Position als Stabsoffizier war Röhm auch für die Erfassung von Waffen demobilisierter Truppenteile zuständig. Als dieser wurde er zu einer Hauptfigur bei der Anlage geheimer Waffenlager zur Versorgung diverser paramilitärischer Verbände. Ab 1921, dann bereits Mitglied der NSDAP, würde er als Generalstabsoffizier für die Reichswehr arbeiten (46). Die Erzählung von der „unpolitischen Reichswehr“ entlarvt sich bereits in Kenntnis dieser Episode als Witz (7ii).
Mit Karl Mayr und Ernst Röhm saßen zwei überzeugte Gegner der Weimarer Republik an Schlüsselstellen der Reichswehr, um „politische Aufklärung“ zu betreiben. Und so floss auch viel, sehr viel Geld in Mayers Propagandaabteilung Ib/P:
„Die dieser Abteilung zur Verfügung gestellten Mittel waren beträchtlich. In den Monaten Juni und Juli 1919 wurden insgesamt 240.000 Mark aufgewendet, ergänzt durch Fonds von privater Seite. Die verschiedenen Einheiten verfügten darüber hinaus noch über weitere Finanzmittel.“ (40ii)
Die Aufklärungskurse des Aufklärungskommandos
Im Konzept Mayers stellte das Aufklärungskommando die Propagandisten, welche zuvor in den Aufklärungskursen des RWGrKdo 4 in antibolschewistischer Rhetorik und Propaganda geschult werden sollten. Entsprechend gerüstet, würden diese Aufklärungskommandos „Aufklärungsarbeit“ bei den Soldaten leisten (39iii). Das schloss die Festigung ideologischer Überzeugungen der Teilnehmer zwangsläufig ein, was da mindestens waren: extremer Nationalismus, Antisemitismus, Antibolschewismus/Antikommunismus und nicht zuletzt die Ablehnung der Weimarer Republik.
Damit ergab sich natürlich zwangsläufig eine vorherige Selektion geeigneter Kandidaten. Geeignet war, wer entsprechende ideologische Wesenszüge mitbrachte. Die ließen sich vor allem im Offizierskorps und außerdem in den unteren Rängen bei denen finden, die ihre Loyalität und Überzeugung bereits nachgewiesen hatten. Das waren vor allem die Informanten, die „V-Leute“. Der Großteil der Offiziere studierte an der Universität München und war noch nicht aus dem aktiven Dienst entlassen worden. Diese Gruppe wurde in den Aufklärungskursen als „Bildungsoffiziere“ klassifiziert und somit von den „V-Leuten“ unterschieden.
Daher legte die Abteilung Ib/P umgehend, um die Monatswende Mai/Juni, umfangreiche Listen von „V-Leuten“ an. In einer dieser Listen findet sich der Name „Hittler Adolf“. Wenn auch falsch geschrieben, so bestehen doch keine Zweifel, dass es sich dabei um eben den künftigen „Führer“ handelt (46). Ob nun bei dieser Notiz einer der Aufklärungskurse zur Sprache kommt, ist nicht sicher. Aber vom Zeitrahmen her passt es perfekt in die sich nunmehr beschleunigende Metarmophose Hitlers:
„Juni: Hitler wird von seiner Einheit zur Teilnahme an einem Rednerkurs für ausgewählte ‚Propagandaleute‘ an der Universität München vorgeschlagen und zeichnet sich dabei als talentierter Redner aus.“ (47)
Der Standort der Vorläufigen Reichswehr in München scheint ein Sammelbecken und Talenteschuppen für die zukünftigen Mitglieder der nationalsozialistischen Bewegung gewesen zu sein. Und das hat seine Ursache eben auch darin, dass die Reichswehr selbst vom Hass auf die Demokratie und einem tiefsitzenden Antisemitismus durchdrungen war.
Ein weiterer Teilnehmer und Leiter der „Aufklärungskurse“ wurde ja bereits erwähnt: Hermann Esser. Ja, genau jener der Thule-Gesellschaft angehörende Hermann Esser, der später Redakteur des NSDAP-Blattes Völkischer Beobachter sowie 1933 Staatsminister und Chef der Bayerischen Staatskanzlei wurde (siehe auch weiter oben) (36iv).
Was die Person Adolf Hitlers betrifft, war es sicher seine bewiesene Loyalität, seine klare ideologische Ausrichtung und eine erkannte rhetorische Befähigung, die ihn für die Abteilung Ib/P interessant machten. Hitler hatte offenbar zur Zufriedenheit Nachrichten gesammelt und wortreich weitergegeben, aber bewusst und wirkmächtig Nachrichten als Propaganda zu verbreiten, war eine neue Aufgabe.
Infolge seiner Sozialisierung hatte Hitler schon immer Kommunikationsprobleme, scheute empathischen Austausch. Das hatte ihn zu einem Eigenbrödler gemacht. Andererseits gefiel er sich darin, bei gebührender Aufmerksamkeit ellenlange Monologe zu halten. Für einen Propagandisten, der daran interessiert ist, dass Kommunikation stets in Richtung seiner Konsumenten verläuft, und nicht umgekehrt, waren das keine schlechten Voraussetzungen.
Die Strukturen und Netzwerke der Reichswehr und der Thule-Gesellschaft, in die Hitler zunehmend hineinwuchs, stellten ihm hierfür ein hervorragendes Arbeitsfeld bereit. Doch seine rhetorischen, manipulativen Fähigkeiten, vor allem aber sein Machtgen warteten auch für Hitler selbst noch auf die Offenbarung.
Bitte bleiben Sie schön aufmerksam, liebe Leser.
Hier geht es zu den bisherigen Teilen der Artikelreihe:
- Hitlers Kampf und sein Weg zur Macht (1) — Kinder- und Jugendzeit
- Hitlers Kampf und sein Weg zur Macht (2) — Kinder für den Krieg gewinnen
- Hitlers Kampf und sein Weg zur Macht (3) — Jugendjahre
- Hitlers Kampf und sein Weg zur Macht (4) — Politisierung und Ideologisierung in Wien
- Hitlers Kampf und sein Weg zur Macht (5) — Am Vorabend des Ersten Weltkrieges
- Hitlers Kampf und sein Weg zur Macht (6) — Als junger Krieger
- Hitlers Kampf und sein Weg zur Macht (7) — Der Namenlose und das Kriegsende
- Hitlers Kampf und sein Weg zur Macht (8) — Entwurzelt und benutzbar
- Der nächste Teil erscheint im November.
Anmerkungen und Quellen
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(Allgemein) Die Artikelreihe „Hitlers Kampf und sein Weg zur Macht“ fußt auf der vor Jahren veröffentlichten Reihe „Lesungen aus einem verbotenen Buch“. Die ursprünglichen Texte, bestehend aus acht Artikeln, wurden umfassend überarbeitet; sowohl inhaltlich als auch redaktionell. Außerdem fanden sie ihre Fortsetzung in weiteren Artikeln, die letztlich in eine Buchedition (online) münden sollen.
(a1) Wahrscheinlich nahm Adolf Hitler bereits am ersten „Aufklärungskurs“ der Reichswehr teil, der am 5. Juni 1919 begann. Einer der damaligen Referenten, Karl Alexander von Müller, erzählte, dass er (seinen Schulfreund) Hauptmann Mayr damals auf das „rhetorische Naturtalent“ Hitlers aufmerksam gemacht hätte, womit Hitler dem Leiter der Propagandakompanie bereits in jenen Wochen namentlich bekannt war (49).
(1) 17.11.1964; Der Spiegel; Der Mann der Feldherr werden wollte; https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-46176139.html; Artikel hinter Werbeschranke; Primärquelle: Fritz Wiedemann; Der Mann der Feldherr werden wollte; Blick + Bild Verlag, 1964
(2 bis 2ii) 20.07.2021; nd; Otto Köhler; Der Bluthund; https://www.nd-aktuell.de/artikel/638571.der-bluthund.html
(3) 14.09.2014; Lemo; Gustav Noske 1868-1946; https://www.dhm.de/lemo/biografie/gustav-noske
(4) Archivführer Deutsche Kolonialgeschichte; Bestand BArch, PH 3 — Großer Generalstab der Preußischen Armee / Oberste Heeresleitung des Deutschen Heeres (Bestand); https://archivfuehrer-kolonialzeit.de/index.php/grosser-generalstab-der-preussischen-armee-oberste-heeresleitung-des-deutschen-heeres-bestand; abgerufen: 17.09.2025
(5) 03.03.2016; Geschichte-Wissen; General Erich Ludendorff — ein hervorragender General, aber kein Feldherr; https://geschichte-wissen.de/blog/biographie-general-erich-ludendorff/
(6, 6i) EHRI; Ludendorff, Erich (General der Infanterie); https://portal.ehri-project.eu/units/de-002525-n_77; abgerufen: 18.09.2025
(7 bis 7ii) 12.12.2022; Arbeitskreis Militärgeschichte e.V.; Christian Lübcke; Versuche der Bindung der Reichswehr an die Weimarer Republik in den Jahren 1919 bis 1921 – II. Teil: „Neue Forschungen zur Reichswehr“; https://www.portal-militaergeschichte.de/luebcke_soldat
(8) 13.03.2019; Deutschlandfunk; Winfried Sträter; Ein Schießbefehl mit fatalen Folgen; https://www.deutschlandfunkkultur.de/maerzkaempfe-1919-in-berlin-ein-schiessbefehl-mit-fatalen-100.html
(9) 2014; G. Hirschfeld und weitere; Enzyklopädie Erster Weltkrieg; S. 664 f., 870 ff. 927 ff.; entnommen am 30.07.2024 bei https://de.wikipedia.org/wiki/Erster_Weltkrieg#cite_note-12
(10, 10i) 1959; Rudolf von Albertini, Ernst Deuerlein und weitere; Hitlers Eintritt in die Politik und die Reichswehr; IfZ München, Vierteljahreshefte; https://www.ifz-muenchen.de/heftarchiv/1959_2_4_deuerlein.pdf; (10i, 10ii) S. 203/204; siehe auch https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/archiv/525824/hitlers-eintritt-in-die-politik-und-die-reichswehr/
(11) 01.12.1918; Traunsteiner Tagblatt; Gerd Evers; Kriegsende und Revolution; https://www.traunsteiner-tagblatt.de/das-traunsteiner-tagblatt/chiemgau-blaetter/chiemgau-blaetter-2018_ausgabe,-kriegsende-und-revolution-_chid,1834.html
(12) Bernhard Straßers Chiemgauseiten; Adolf Hitler und Eva Braun — Verbindungen nach Traunstein; https://www.chiemgauseiten.de/chiemgau/heimatgeschichte/adolf-hitler-und-eva-braun-verbindungen-nach-traunstein/; abgerufen: 22.09.2025
(13) 22.11.2012; Historisches Lexikon Bayerns; Georg Köglmeier; Kongress der bayerischen Arbeiter-, Soldaten- und Bauernräte, 1919; https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Kongress_der_bayerischen_Arbeiter-,_Soldaten-_und_Bauernr%C3%A4te,_1919
(14) 14.12.2018; bpb; Andreas Wirsching; Das „Moskau unserer Bewegung“. München zwischen Eisner und Hitler; https://www.bpb.de/apuz/282410/das-moskau-unserer-bewegung-muenchen-zwischen-eisner-und-hitler
(15) 16.08.2006; Historisches Lexikon Bayerns; Bernhard Grau; Beisetzung Kurt Eisners, München, 26. Februar 1919; https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Beisetzung_Kurt_Eisners,_M%C3%BCnchen,_26._Februar_1919
(16) 14.12.2018; bpb; Andreas Wirsching; Das „Moskau unserer Bewegung“. München zwischen Eisner und Hitler; https://www.bpb.de/apuz/282410/das-moskau-unserer-bewegung-muenchen-zwischen-eisner-und-hitler
(17) 06.03.1919; documentArchiv.de; Ausführungsverordnung zum Gesetz über die Bildung einer vorläufigen Reichswehr.; http://www.documentarchiv.de/wr.html
(18) 15.04.2019; Welt; Sven Felix Kellerhof; Wie links war Adolf Hitler im Jahr 1919?; https://www.welt.de/geschichte/article191925515/Raeterepublik-1919-Hitlers-politische-Karriere-begann-im-Linksextremismus.html
(19, 19i) Time Note; Thule-Gesellschaft; https://timenote.info/de/events/Thule-Gesellschaft; abgerufen: 12.06.2025
(20 bis 20ii) 1925; Mein Kampf, Erster Band — Eine Abrechnung; Adolf Hitler; Zwei Bände in einem Band; ungekürzte Ausgabe; Zentralverlag der NSDAP., Frz. Eher Nachf., G.m.b.H., München; 851.–855. Auflage 1943; (20, 20i) S. 226/227; (20ii) S. 227; (20iii) S. 228, 232, 237, 781
(21) 20.04.2012; Wencke Meteling; https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-16122 Rezession zu: Hitlers erster Krieg; Thomas Weber; 2011; Prophyläen Verlag, Berlin; ISBN: 978-3549 0740 53
(22) 05.09.2008; Historisches Lexikon Bayerns; Siegfried Zelnhefer; Der Stürmer. Deutsches Wochenblatt zum Kampf um die Wahrheit; https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Der_St%C3%BCrmer._Deutsches_Wochenblatt_zum_Kampf_um_die_Wahrheit
(23) 11.01.2015; Zukunft braucht Erinnerung; Stefan Loubichi; Thule-Gesellschaft — Ein Ideengeber der NS-Ideologie; https://www.zukunft-braucht-erinnerung.de/thule-gesellschaft-ein-ideengeber-der-ns-ideologie/
(24, 24i) Die „Thule-Gesellschaft“ und der Mord an Kurt Eisner; https://charlottemariaschweitzer.jimdofree.com/geschichtliches/die-thule-gesellschaft-und-der-mord-an-kurt-eisner/; abgerufen: 22.09.2025
(25, 25i) 17.07.2006; Historisches Lexikon Bayerns; Hermann Gilbhard; Germanenorden; https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Germanenorden
(26) 26.06.2006; Historisches Lexikon Bayerns; Franz J. Bauer; Kabinett Eisner, 1918/19; https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Kabinett_Eisner,_1918/19
(27) 1963; Reginald H. Phelps; Before Hitler Came, Thule Society and Germanen Orden; The Journal of Modern History. 35 (3); S. 245 bis 261; https://www.jstor.org/stable/1899474; hinter Registrierungs-/Bezahlschranke
(28, 28i) 17.07.2006; Historisches Lexikon Bayerns; Hermann Gilbhard; Thule-Gesellschaft, 1918-1933; https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Thule-Gesellschaft,_1918-1933
(29) 11.05.2006; Historisches Lexikon Bayerns; Paul Hoser; Münchener Beobachter; https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/M%C3%BCnchener_Beobachter
(30) 1961; Institut für Zeitgeschichte München; ZS-50; https://www.ifz-muenchen.de/archiv/zs/zs-0050.pdf; S. 1
(31) 16.01.2025; NS-Dokumentationszentrum München; Sabine Schalm; Thule-Gesellschaft; https://www.nsdoku.de/lexikon/artikel/thule-gesellschaft-835
(32) 11.05.2006; Historisches Lexikon Bayerns; Paul Hoser; Völkischer Beobachter; https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/V%C3%B6lkischer_Beobachter
(33) 22.03.2019; Historisches Lexikon Bayerns; Matthias Bischel; Räterepublik Baiern (1919); https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/R%C3%A4terepublik_Baiern_(1919)
(34) 11.05.2006; Historisches Lexikon Bayerns; Florian Sepp, Matthias Bischel; Palmsonntagsputsch, 13. April 1919; https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Palmsonntagsputsch,_13._April_1919
(35) Sir Aurobindo; Georges van Vrekhem; Hitler and his God; When Hitler became the Führer; https://motherandsriaurobindo.in/disciples/georges-van-vrekhem/books/hitler-and-his-god/; Kapitel: Like a Worn Out Stray Dog; aus: Ralph Reuth; Hitler — Eine politische Biographie; Piper Verlag, München; ISBN 978-3-492036-597; S. 79
(36 bis 36iv) 10.11.2023; Bayerische Staatszeitung; Paul Hoser; Führender Scharfmacher; https://www.bayerische-staatszeitung.de/staatszeitung/unser-bayern/detailansicht-unser-bayern/artikel/fuehrender-scharfmacher.html
(37) 20.09.2021; Deutsche Digitale Bibliothek; Thomas Paringer; Nachlass Esser, Hermann (Bestand); https://www.deutsche-digitale-bibliothek.de/item/4RGIG57KNFS2ZIWP63R5DTZXHUR3UFTJ
(38) 05.02.2019; Frankfurter Rundschau; Markus Mohr, Klaus Viehmann; Geliebter Verrat, verhasster Verräter; https://www.fr.de/kultur/literatur/geliebter-verrat-verhasster-verraeter-11733054.html; Artikel hinter Werbeschranke
(39) Lexikon der Wehrmacht; Gruppenkommandos der Reichswehr und Wehrmacht vor der Mobilsierung; https://www.lexikon-der-wehrmacht.de/Gliederungen/Gruppenkommando/Gliederung-R.htm; zu Reichswehrgruppenkommando 4: https://www.lexikon-der-wehrmacht.de/Gliederungen/Gruppenkommando/Gruppenkommando4_2-R.htm; abgerufen: 23.09.2025
(40 bis 40iii) 10.03.2015; Historisches Lexikon Bayerns; Othmar Plöckinger; Aufklärungskommando und Propaganda der Reichswehr in Bayern; https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Aufkl%C3%A4rungskommando_und_Propaganda_der_Reichswehr_in_Bayern
(41) Historisches Lexikon Bayerns; Kai Uwe Tapken; Reichswehr-Gruppenkommando 4, 1919-1921; https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Reichswehr-Gruppenkommando_4,_1919-1921
(42) 02.04.1959; Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte; Ernst Deuderlein; Hitlers Eintritt in die Politik und die Reichswehr; https://www.ifz-muenchen.de/heftarchiv/1959_2_4_deuerlein.pdf; S. 178; siehe auch: https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/archiv/525824/hitlers-eintritt-in-die-politik-und-die-reichswehr/
(43) 02.08.2025; bavarikon; Christoph Hübner; Eiserne Faust, 1919-1934; https://www.bavarikon.de/object/bav:BSB-HLB-00000000HLB44865?lang=de
(44) 28.08.2025; German History; SA-Stabschef Ernst Röhm (1934); https://germanhistorydocs.org/de/deutschland-nationalsozialismus-1933-1945/sa-stabschef-ernst-roehm-1934
(45) 22.09.2025; bavarikon; Joachim Lilla; Röhm, Ernst; https://verwaltungshandbuch.bavarikon.de/VWH/R%C3%B6hm,_Ernst
(46) 14.09.2025; Lemo; Ernst Röhm 1887-1934; https://www.dhm.de/lemo/biografie/ernst-roehm
(47) 1919; HStA. München, Abt. II, Gruppen Kdo 4, Bd. 50/4; Beschriftung: „Rw Gruppen Kdo 4. Abt. Ib. Listen der Propaganda- und Vertrauensleute“; entnommen bei: 1959; Institut für Zeitgeschichte München; Jahrgang 7, Heft 2; Rudolf von Albertini, Wilhelm Deist, Waldemar Besson, Ernst Deuerlein; Hitlers Eintritt in die Politik und die Reichswehr; https://www.ifz-muenchen.de/heftarchiv/1959_2_4_deuerlein.pdf; S. 179
(48) 12.10.1998; Lemo; Daniel Wosnitzka; Adolf Hitler 1889 — 1945; https://www.dhm.de/lemo/biografie/adolf-hitler
(49) 1969; Ernst Deuerlein; Hitler, Eine politische Biographie; List Taschenbücher; S. 43/44, 170
(Titelbild) Volksempfänger, Mein Kampf; Spengler Museum Sangerhausen; 06.08.2007; Autor: Giorno2 (Wikimedia); https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Spengler_Museum_Sangerhausen_4.jpg; Lizenz: Creative Commons 4.0