Bericht von der Reise durch ein bekanntes und doch unbekanntes Land.


Nein, unbekannt ist diese Gegend, dieses Land nicht. Es ist auch in Deutschland wohlbekannt. Aber ist das, was in Deutschland allgemein von den Geschehnissen im Donbass bekannt ist, auch wahr? Man müsste das prüfen. Aber wie kommt man da hin? Und wenn man da hinkommt, wie gelingt das, ohne „eingebettet“ zu sein? Denn fast immer wird zuvor das, was vorgestellt wird, passend für den Betrachter „geschmückt“. Erst recht dann, wenn das Land und seine Menschen mitten im Krieg sind. Flo Osrainik hat versucht, ungeschminkte Bilder des Donbass vor allem in Worten einzufangen.


Vorwort

Man kommt nicht so einfach in den Donbass. Auch und erst recht nicht als Journalist. Als Deutscher sowieso nicht, als Österreicher auch nicht. Als 2014 die demokratisch gewählte Regierung von Viktor Janukowitsch durch die „Revolution der Würde“, hierzulande auch als „Euro-Maidan“ bekannt, aus dem Amt gejagt wurde, war das nüchtern betrachtet schlicht und einfach ein Putsch und damit eine Aushebelung der Demokratie.

Diese schlichte Wahrheit wird im westlichen Informationsraum durch einen riesigen Berg an Desinformation zugeschüttet. Der Maidan war ein Putsch und als solcher verletzte er die Prinzipien eines demokratischen Rechtsstaates. In einem größeren Rahmen betrachtet, können wir sogar sagen, dass die Demokratie in der Ukraine mittels des Maidan begraben wurde. Und außerdem war dieser Putsch der unmittelbare Anlass für den Ausbruch des Konflikts in der Ostukraine.

Dabei ist selbst das noch missverständlich ausgedrückt. Der Krieg brach nicht in der Ostukraine aus. Er kam in die Ostukraine. Er kam mit dem Militär und faschistoiden Milizen in die Ostukraine, die von den Kiewer Putschisten dorthin entsendet wurden. Woran man gut erkennt, dass es den Putschisten nicht etwa um das Land und seine Bevölkerung ging und geht. Es geht ihnen um die Macht.

Die ethnisch vorwiegend russisch geprägte Bevölkerung war nicht bereit, die neuen, illegal in diese Position gekommenen Machthaber anzuerkennen. Das war ihr gutes Recht. Es war ihr Recht, so man die Ukraine als demokratischen Rechtsstaat wahrnimmt. Als sie dieses Recht für sich in Anspruch nahmen, wurden die Menschen dort zu Feinden erklärt. Sie wurden zu Freiwild.

Die großen Lügen beginnen mit Worten. Mit Worten, die einen Spin erzeugen sollen. Im Falle der Ostukraine war es der Begriff „prorussische Separatisten“. Dieser Begriff ist geschickt gewählt und gleichwohl widersinnig. Er will suggerieren, dass alles, was in Konflikten in der Region geschieht, durch Moskau gesteuert wäre. Er verdreht die Kausalitäten.

Noch einmal: Die Ostukraine wird in ihrer überwältigenden Mehrheit von Russen bewohnt. Einer Ethnie mit charakteristischer Kultur und Sprache. Der Ausdruck „prorussisch“ ist sinnfrei. Es sei denn, die Russen würden sich ganz allgemein selbst hassen. Das tun sie gewiss nicht. Zur Verdeutlichung: Die sogenannten Antideutschen unterscheiden sich vom deutschen Normalbürger insofern, dass der selbstredend „prodeutsch“ ist.

Damit ist eigentlich schon alles gesagt. Die Bevölkerung eines Landes verweigerte die Anerkennung neuer Machthaber, die illegal durch einen auch noch von ausländischen Agenten gesteuerten Putsch die Macht an sich gerissen hatten. Und kein demokratischer Rechtsstaat setzt die Armee gegen die Bevölkerung des eigenen Landes ein, um sozusagen diktatorisch durchzuregieren.

Das also ist das große Bild. Seit 2014 wurden ukrainische Russen, ukrainische Bürger mit russischer Ethnie, zu Feinden im eigenen Land abgestempelt. Sie wurden stigmatisiert, Repressalien ausgesetzt und sie wurden getötet. Unter den 14.000 Toten, die vor Beginn der russischen Intervention in der Ostukraine zu beklagen waren, befanden sich 9.000 Zivilisten, und das waren im Wesentlichen Zivilisten mit russischer Ethnie.

Wer sich in diese Menschen tatsächlich hineinversetzen kann, der wird auch verstehen, dass sie sich in einem Land, das nun Teil Russlands geworden ist, heimischer fühlen als in einem Staat, in dem Russenhass zur Staatsräson geworden ist. Diese Menschen haben jedes Recht, nicht ukrainische Staatsbürger zu sein, und gleichzeitig jedes Recht, in ihrer Heimat weiterzuleben. Damit kommen wir nun aber zum Buch, das den wohlformulierten Titel Donbassdonner trägt.

Das Buch

Ungeschminkte Bilder enthalten alles. Sie enthalten die Schönheit, die Liebe, bunte Farben und düsteres Grau, die Schmerzen, das Leben, den Tod. Ungeschminkte Bilder sind voller Brüche. Erst recht dann, wenn die Umstände dramatisch sind. Krieg ist dramatisch. Krieg ist nicht normal. Krieg ist menschlich und doch entmenscht er. Es ist eine Gratwanderung, um vom Krieg und den Betroffenen zu berichten, ohne sich dabei vereinnahmen zu lassen. Der deutsch-österreichische Autor und Journalist Flo Osrainik begab sich auf diese Gratwanderung.

Herausgekommen ist ein spannendes, lesenswertes Buch über den Donbass im Frühjahr 2024. Ein Buch, in dem Osrainik hin- und herwechselt zwischen der Erläuterung von Hintergründen zum Krieg in der Ostukraine und dem reinen, nüchternen und trotzdem persönlichen Bericht. Beides zusammen möchte dem Leser die Möglichkeit geben, zu verstehen, was berichtet wird. Für mich wirkt das Buch gerade dort am eindrucksvollsten, wo Flo Osrainik fast lapidar vom selbst Erlebten berichtet und auf diese Weise, eben nüchtern, unaufgeregt, die Härten, Risiken, aber auch eine gewisse Surrealität des Lebens im Krieg deutlich macht.

Die ukrainische Führung ist nicht daran interessiert, dass ungeschminkt aus dem Donbass berichtet wird. Es gilt allein ihre Erzählung. Das ist die Erzählung, die der deutsche Normalbürger kennt und durch die er sich informiert fühlt. Diese Erzählung darf nicht hinterfragt werden. Auch nicht in deutschen Medien, die geradezu krampfhaft den faschistischen Charakter des Kiewer Regimes ausblenden. Auch nicht von Journalisten, denen das Hinterfragen ein innerer Auftrag sein muss, wenn sie ihren Beruf ernst nehmen.

Die Ukraine verbietet Journalisten grundsätzlich die Einreise in den von Russland kontrollierten Donbass. Wer das Verbot umgeht, muss mit ukrainischer Verfolgung rechnen. Überhaupt muss man mit politischer Verfolgung rechnen, wenn man sich in der Ukraine russophiler Gedanken und Taten verdächtig macht. In einem Land, in dem 30 Prozent der Bevölkerung ethnische Russen sind. Flo Osrainik kann nicht mehr in die Ukraine einreisen. Es sei denn, er nimmt das Risiko auf sich, dort festgenommen zu werden (1, 2).

Flo Osrainik hat mir dankenswerterweise ermöglicht, vorab einige Auszüge seines am 16. Juni des Jahres beim Etica Media Verlag erscheinenden Buches hier zu veröffentlichen. Die in Klammern gefassten Indizes wurden zum besseren Verständnis durch den hiesigen Autor hinzugefügt.

Donbassdonner

Was hat Osrainik bewogen, seinem Bericht den Titel Donbassdonner zu verleihen?

„In der Nachtapotheke brennt Licht. Obwohl Cap und ich sturmgeläutet haben, hat keiner aufgemacht. Wir fahren weiter. Kommen an Bushaltestellen vorbei, die weiß-blau-rot, also in den Farben der russischen Flagge, angestrichen sind. Die ersten zerbombten Häuser sind zu sehen.

Cap zeigt auf eine Ruine zur Rechten. »Das war eines der ersten Häuser, die die Ukrainer bombardiert haben.« Vor einem Hochhaus bleiben wir stehen. Wir sind nicht weit vom Kalmius, dem Fluss, der 120 Kilometer südlich von Donezk bei Mariupol ins Asowsche Meer mündet. Hier werden wir ein paar Tage wohnen. Cap hat für uns eine möblierte Wohnung angemietet.

Ich habe meine Tasche noch nicht ganz über die Schulter gehievt, da wendet sich Cap zu uns. »Hört ihr das?« Es donnert. »Boom. Boom-boom.« Die gekippten Fenster des Wohnhauses vor uns vibrieren. Dann noch einmal: »Boom.« Cap sagt, dass die Front nicht weit sei. Je nachdem, wo man sich in der Stadt befindet, nur ein paar Kilometer. Er zeigt in eine Richtung.

»Das ist Beschuss. Ausgehender Beschuss. Die Front ist dort drüben.« Ausgehender Beschuss heißt, dass man den Feind beschießt. Bei eingehendem Beschuss wird man vom Feind beschossen. Man kann den Unterschied auch hören, mal ist der Knall heller und mal etwas dumpfer (a1).

»So geht es hier die ganze Zeit. Rund um die Uhr.« Wir fahren mit dem Aufzug in den zehnten Stock. Es ist gegen 6 Uhr morgens, vielleicht auch später. Ich habe nicht auf die Uhr geschaut. Cap bringt uns hoch. Der Fahrer schläft. Die Wohnung hat zwei Schlafzimmer, eine Küchennische, ein Wohnzimmer, ein Bad und einen weiten Ausblick. Ich will nur schlafen. Die gekippten Fenster hier oben klappern nach jedem Knall noch lauter als unten. Cap verabschiedet sich von uns. »Wir sehen uns am Nachmittag. Schlaft gut.«“ (dd1)

Symbole

Leben die Bewohner des Donbass unter Besatzern? Sie selbst sind schließlich nach dem Völkerrecht die entscheidende Instanz dafür, welchem staatlichen Völkerrechtssubjekt sie sich zuwenden können. Die Ukraine als Völkerrechtssubjekt hatte ihnen grundlegende Rechte entzogen. Die russische Kultur und Sprache werden auf ukrainischem Staatsgebiet in Frage gestellt. Die Verwendung der russischen Sprache im öffentlichen Raum steht dort unter Strafe. Renten und Sozialleistungen wurden den Menschen in der Ostukraine schon lange vor dem Februar 2022 verwehrt. Statt sich den Bewohnern, samt ihren Ängsten und Nöten, zuzuwenden, wurden sie zu Menschen zweiter Klasse herabgestuft. Die ukrainische Regierung behandelte die Donbassbewohner nicht als gleichberechtigte Staatsbürger, sondern als Feinde.

In der Außensicht sind die Dinge für den hiesigen Autor und wohl auch für Flo Osrainik klar. Ist diese Sicht aber auch tatsächlich nah an der Sicht des Großteils der Donbass-Bewohner? Osrainik versucht sich dem in seinem Bericht anzunähern. Ihm fiel das gehäufte Auftreten von Symbolik auf. Natürlich kann so etwas auch regierungsseitig verordnet werden, und teilweise wird das auch der Fall sein (a2). In Donbassdonner lesen wir:

„Die Vögel zwitschern. An den Donner habe ich mich inzwischen gewöhnt. So wie die Vögel. Und die Kinder. Eigentlich wie alle, die in Donezk geblieben sind. Ich schlafe bei offenem Fenster. Das Vibrieren der Scheiben nach den heftigen Detonationen irgendwo in der Ferne weckt mich trotzdem auf. Der Türrahmen meines Zimmers, der schon vorher nicht fest saß, hat sich in der Nacht komplett gelöst. Vielleicht auch wegen der Erschütterungen.

Cap holt uns heute gegen Mittag wieder ab. Er will uns Donezk zeigen, auch »sein« Hochhaus, und dann eine Gedenkstätte. Aber zuerst essen wir in einem georgischen Restaurant. Auf dem Weg dorthin fallen mir die vielen Flaggen der Russischen Föderation und der Volksrepublik Donezk auf. Überall hängen sie zur Bekundung der Unabhängigkeit von Kiew. Und nun auch, um die Zugehörigkeit zu Russland zu demonstrieren. An Hauswänden, Balkonen und auf den Plätzen.

Es war Cap, der mich darauf gebracht hat. Die Flagge der Volksrepublik Donezk, eine Trikolore ähnlich der Russlands. Einer der Streifen ist schwarz statt weiß. Und damit trägt sie dieselben Farben wie die Flagge der Carboneria, des bedeutendsten Geheimbundes der italienischen Staaten des 19. Jahrhunderts. Mit der Losung »Es ist gerecht, Italiens Könige zu töten« setzten sich die Carbonari, auf Deutsch Köhler, rigoros für eine Einigung Italiens und damit  politische Freiheit ein. Ich dachte, es gebe den Bund der Köhler nicht mehr. Doch hier im Kohlerevier soll er noch wirken.

Auch die Spuren des Krieges, der die Stadt seit einem Jahrzehnt mit Terror überzieht, sind zu sehen. Große und kleine Einschläge von Raketen und Schrapnellen in Dächern und in Fassaden. Kaputte und mit Holzbrettern vernagelte Fenster. Und Fenster, vor oder hinter denen Sandsäcke gestapelt sind. Mannshoch.

In Donezk haben viele Geschäfte dauerhaft geschlossen. Mehr als die Hälfte bestimmt. Nicht aber die Armeeshops, von denen es an jeder zweiten Ecke einen gibt. Mit Klamotten in Flecktarnmuster und Waffen aller Art rollt der Rubel. Auch Cap trägt sein Eisen heute wieder am Gürtel. Bei der Volksmiliz hat er den Rang eines Offiziers. Während wir im Restaurant vor unseren Tellern sitzen, erzählt er, wie das hier so läuft.

»Morgens kann man zur Arbeit an die Front fahren, zum Mittagessen in die Stadt kommen, danach in den Schützengraben zurück und am Abend ins Theater gehen. Wenn man will.« In Donezk ist das möglich und für einige auch Alltag. Beim Georgier ist es voll. Ein junges Paar sitzt rechts von uns. Zwei Soldaten gegenüber. Einer fällt mir wegen seiner zusammengebundenen Haare auf. Auch weiter hinten speisen Milizionäre. Daneben ein Tisch mit einer Familie. Kinder. Zivilisten. Und wir.

Die Waffen muss beim Georgier keiner am Eingang abgeben. Die meisten tragen sie offen bei sich. Die beiden gegenüber auch. Sie warten auf ihre Suppe, reden kaum und starren aus dem Fenster. Und auf ihre Handys. Ilia und Cap reden und rauchen. Aus den Lautsprechern schallt Musik. Ilia und Cap stecken sich nach dem Essen eine Zigarette an. Cap dreht sich zu mir.“ (dd2)

Wie es begann

Die Ursachen für den Unwillen der Donbassbewohner — wie gesagt in ihrer Mehrheit ethnische Russen —, sich weiterhin der Staatsräson einer russenfeindlichen Regierung in Kiew zu unterstellen, wurden eingangs kurz erläutert, und auch Osrainik gibt diesem Thema in seinem Buch gebührenden Raum. Aber wieder sind es die selbst erzählten Biografien von vor Ort, die dem Ganzen einen authentischen, glaubwürdigen Eindruck vermitteln:

„Beim Essen fängt Cap an zu erzählen. Donezk ist seine Heimat. Vor dem Krieg hat er als Ingenieur gearbeitet. Er war auch am Bau eines Hochhauses in der Innenstadt beteiligt, das er uns morgen zeigen will. Aber das war einmal. »Seit zehn Jahren ist hier alles anders.«

Nach dem Putsch von Kiew und den angefachten antirussischen Stimmungen im Land ist er zur Volksmiliz gegangen. Das war seine Antwort auf die Bomben und Raketen auf Donezk. »Es kam zum Anti-Maidan. Nicht nur in Donezk, auch in Lugansk oder in Odessa. In der Stadt wurden Barrikaden errichtet. Die Menschen haben gefordert, dass sich der Gouverneur von den Putschisten lossagt. Es gab einen Toten. Einen pro-ukrainischen Faschisten. Das Volk war wütend. Dann ist der Gouverneur abgehauen. So ist das eben.«

Er zuckt mit den Schultern und trinkt einen Schluck Bier. In Lugansk war die russische Bevölkerung auch erfolgreich. In Odessa nicht. Dort setzten sich die Kräfte der Putschisten durch. Menschen starben, so 42 Anti-Maidan-Aktivisten, die im Gewerkschaftshaus Schutz gesucht hatten, das vom Mob in Brand gesetzt wurde.

Und in Donezk? Ich will mehr wissen. »Wie war das mit der Unterstützung der Anti-Maidan-Proteste in der Stadt? Stand die Masse hinter euch?«

»Rund neunzig Prozent der Bevölkerung hat uns unterstützt. Wer gegen uns war, ist weggegangen. Oder ruhig geblieben.« Nur wenigen sei egal gewesen, was passiert war, erzählt Cap. Anfangs hätten sie sich von seiner Baustelle Helme und Funkgeräte geholt. Richtig organisiert und radikalisiert hätten sich die Protestierenden aber erst, als das Kiewer Regime begonnen habe, die Menschen mit der Armee anzugreifen. Cap erinnert sich an einen bestimmten Tag. »Wenn die Armee deine Frauen und Kinder tötet, dann wehrst du dich.«

In der ukrainischen Armee seien allerdings einige unentschlossen gewesen. Manche seien geschickt worden, dabei wollten sie gar nicht kämpfen. Andere hätten sie unterstützt. Er erzählt, wie sie ukrainische Soldaten aufhielten, um sich ihre Ausrüstung, Waffen und Munition zu nehmen. Einer der Soldaten sagte dann, er habe doch nichts gegen sie. Er sei hierher versetzt worden. Eingeschüchtert waren die Soldaten. Eingeschüchtert von ihrer Entschlossenheit, sich zu wehren.

Cap zieht an seiner E-Zigarette. Es riecht nach Wasserpfeife. »Wir ließen die Soldaten ziehen, nahmen ihre Waffen, ihre Ausrüstung und viel, sehr viel Munition.« Die ukrainischen Soldaten seien froh gewesen, in Ruhe gelassen zu werden.

Ilia und Cap trinken von ihrem Bier. Ich von meinem Tee. Wir sitzen am Fenster mit Blick auf den Fluss. Vom Wasser ist nichts zu sehen. Es ist dunkel.

Zu einer Polizeistation seien sie auch gegangen. Zuerst, um sich nach dem Waffenbestand zu erkundigen. Dann, um die Waffen zu verlangen. Den Terror aus Kiew hätten sie nicht ohne Gegenwehr hinnehmen können. Auf Gewalt folge Gewalt. Cap sagt, dass die Polizei zu Beginn der Gegenproteste ja auch nicht so recht gewusst habe, wie sie sich verhalten solle. »Wir waren Partisanen.«“ (dd3)

Ukrainische Soldatenschicksale

Es gibt kein homogenes, zum Widerstand entschlossenes Volk in der Ukraine, das kollektiv bereit wäre, sein Leben im Kampf gegen die russische Intervention zu opfern. Freilich wird gerade dieser Eindruck kollektiven Widerstandes eines ukrainischen Volkes ständig in der westlichen Berichterstattung zum Konflikt erweckt. Osrainik hatte während seiner Zeit in der Ukraine Gelegenheit, Gesprächen mit ukrainischen Deserteuren beizuwohnen. Alexanders Schicksal mag stellvertretend für das vieler tausend anderer Ukrainer stehen.

„Alexander hat zwei Brüder. Der eine wohnt in Donezk und hat sich den Separatisten angeschlossen, der andere kam zur ukrainischen Armee und wurde in den Südosten versetzt. Auch Alexander wurde schließlich eingezogen.

»Ich habe drei Einberufungsbescheide bekommen und alle drei verbrannt. Das war im Sommer 2022. Im selben Jahr, am 22. Dezember, wurde ich an einer Straßensperre angehalten. Ein Polizist nahm meine Daten auf. Daraufhin wurde mir sofort ein Einberufungsbescheid ausgestellt. Nach der ersten Musterung wurde ich aus gesundheitlichen Gründen freigestellt. Bei der zweiten Untersuchung erklärten sie mich plötzlich für diensttauglich.«

Alexander wurde gegen seinen Willen eingezogen. Er wollte nicht gegen die Menschen und gegen die Milizen in den Volksrepubliken kämpfen. Wegen angeblich pro-russischer Äußerungen bekam er dann Besuch vom ukrainischen Geheimdienst. Außerdem sei er weder sportlich noch ausgebildet und einfach nicht fürs Kämpfen gemacht. Als Journalisten zu ihrem Ausbildungsplatz in Bila Zerkwa kamen, wurden er und seine Kameraden vom Lager ferngehalten. »Nur das Kommando durfte mit den Presseleuten sprechen. Sie erzählten ihnen, wir seien eine Freiwilligenbrigade. Das war gelogen. Von uns war keiner freiwillig dort.«

Zweieinhalb Monate war er mit seinem Kameraden auf dem Übungs- und Ausbildungsplatz. Bevor sie an die Front geschickt werden sollten, ging es über Polen aber noch nach Deutschland, um eine NATO-Ausbildung an Bradley-Panzern zu bekommen. Eine viel zu kurze Ausbildung. »Einen Monat und zwei Wochen verbrachten wir auf dem Stützpunkt Grafenwöhr in Bayern. Mit dem Bus wurden wir dorthin gebracht.

Wir haben zivile Kleidung getragen. Unsere Uniformen hatten wir in den Rucksäcken verstaut. Überall wurden wir von US-amerikanischem Militärpersonal empfangen und begleitet.« Auch die Amerikaner waren als Zivilisten gekleidet. Damit man sie nicht als US-Militärs erkennt. »Als wir ankamen, trafen sich unsere Kommandeure mit den NATO-Offizieren.« »Wie war die Ausbildung in Bayern? Was geschah in Grafenwöhr?«

Alexander erzählt die ganze Zeit in gleichbleibend ruhigem Ton. Bescheiden. Schon fast mit Demut. Ohne erkennbaren Zorn. »Es stellte sich heraus, dass dort nur zwei Bradley-Panzer für eine Kompanie von 120 Mann zur Verfügung standen. In Grafenwöhr brachten uns Männer mit Kriegserfahrung im Nahen Osten und in Afghanistan bei, wie man kämpft. Die Methoden waren aber nicht geeignet, um gegen die russische Armee zu kämpfen. Auf dem Stützpunkt wurden unsere Soldaten mit Donbass-Erfahrung befragt. Die US-amerikanischen Ausbilder waren daran interessiert, Details der russischen Taktiken zu erfahren.«

Danach ging es für Alexander und seine Kameraden noch für einen knappen Monat zurück nach Bila Zerkwa. »Unser Ausbildungsprogramm in Grafenwöhr war viel zu kurz. Was man in sechs Monaten lernen sollte, haben wir in einer Woche durchgezogen.«

»Was war mit deinen Brüdern? Wie ging es denen in dieser Zeit? Hattest du Kontakt?« Alexander fährt fort: »An einem Tag rief mich meine Mutter an und sagte, dass sie jetzt die Nummer meines älteren Bruders habe. Daraufhin haben wir uns über Telegram geschrieben.«“

Dieser Bruder war in Donezk bei der Miliz gewesen. Auf Seiten der Separatisten. »Er bat mich, für ihn Informationen zu sammeln. Also berichtete ich ihm, was ich gesehen hatte und wusste: den Standort unserer Truppen, ein paar Zahlen und Aktivitäten, einige Informationen über unsere Einheiten und Waffen.«

»Warst du da schon an der Front? Wie waren deine Erfahrungen im Einsatz?« »Ja, wir wurden sehr bald an die Front geschickt. Die Sturmeinheiten, die vorne kämpften, starben schnell, und es gab nie genug von ihnen. Wir wurden aufgeteilt. Ein Teil blieb hinten beim Nachschub, aber der größere Teil von uns wurde zu den Sturmtruppen versetzt. Ich auch. Aber was für ein Stürmer war ich denn schon? Ich sagte den Kameraden, dass wir dort zur Schlachtbank geführt werden. Wir waren schon älter, schlecht ausgebildet, ohne Erfahrung, gezwungen und müde.«

Alexander kam mit seiner Einheit zur 92. Brigade nach Kupjansk im Osten von Charkiw. Sie sollten die Linien halten. Dort traf er auch auf westliche Söldner, die mit der beziehungsweise für die ukrainische Armee im Einsatz waren. […]“ (dd4)

Dank

Flo Osrainik kehrte tief beeindruckt von seiner Reise in den Donbass zurück. Und es ist ihm wichtig, Menschen zu danken.

„Dank gebührt auch all jenen wachen, kritischen Geistern, die sehen, was tatsächlich in der Ukraine passiert, und immer wieder darauf aufmerksam machen. Noch immer sterben dort Tag für Tag viele Menschen. Dank dem politischen Westen — der politische Osten fällt wenigstens nicht in fernen Ländern ein oder versucht sie von oben herab zu belehren […].

Geht es [doch] in der Ukraine nicht um Menschen-, sondern um Schürfrechte. Auch nicht um Selbstbestimmung, sondern um Fremdbestimmung. Nicht um Demokratie und Autonomie, sondern um Machtausbau und Oligarchie. Nicht um Pluralismus, sondern um Zentralismus. Und die Menschen in der Ukraine sind Köder und Opfer bis zum Tod in Heerscharen.

Deswegen gilt mein Dank grundsätzlich allen kritischen Geistern und wachsamen Köpfen aller Seiten, die sich irgendwie gegen jede Tyrannei der Fremdbestimmung und für die Freiheit der Selbstbestimmung erheben. Vor allem aber auch jenen, die sich nach »Divide et impera« nicht zu Gunsten und im Sinne Dritter spalten und gegeneinander aufbringen lassen.“ (dd5)

Danke, Flo Osrainik. Bitte bleiben Sie achtsam, liebe Leser.


Anmerkungen und Quellen

(Über den Autor) Flo Osrainik ist ein kritischer Journalist und Autor. Der ehemalige Formel-Ford-Fahrer studierte Wirtschaft und Journalismus und berichtet(e) regelmäßig für verschiedene progressive, alternative und unabhängige Medien zu den Schwerpunkten Globales und Soziales. Der Deutsch-Österreicher ist unter anderem im Vorstand von acTVism und legt sich immer dann mit der Mehrheitsgesellschaft an, wenn es um die Befürwortung von Kriegen, die Duldung von Armut oder das Ignorieren von Ungerechtigkeiten geht. Weitere Infos unter www.floosrainik.net.

(dd1 bis dd5) Flo Osrainik; Donbassdonner — Ein Reisebericht von der anderen Seite der Geschichte; Corage Media (Etica Media); Erscheinungsdatum: 16.06.2025; 22,00 Euro; https://eticamedia.eu/produkt/donbassdonner/; ISBN: 978-9083-52591-4; (dd1) S. 76; (dd2) S. 88/89; (dd3) S. 83/84; (dd4) S. 110 bis 112; (dd5) S. 182/183

(a1) Flo Osrainiks Bericht stammt vom Frühjahr 2024. In jener Zeit befand sich die Hauptkampflinie teilweise nur 15 Kilometer vom Donezker Stadtzentrum entfernt. Seitdem sind die russischen Streitkräfte auf ganzer Linie zwischen 20 und 40 Kilometer nach Westen vorgedrungen, sodass der Beschuss der Großstadt Donezk durch ukrainische Truppen erheblich zurückgegangen ist. Einzig weitreichende Geschütze wie die deutsche Panzerhaubitze 2000 (3) und die deutschen und US-amerikanischen Mehrfachraketenwerfer vom Typ MARS und HIMARS erreichen noch das Stadtgebiet (4, 5). Unten zu sehendes Video einer ukrainischen Überwachungsdrohne zeigt einen HIMARS-Angriff auf zivile Infrastruktur in Donezk im März 2023 — einen Doppelangriff, bei dem der zweite Angriff eingetroffenen zivilen Hilfskräften galt (v1, 6):

(a2) Es sei darauf hingewiesen, dass auch in Deutschland eine regierungsseitig gepflegte Symbolik im Straßenbild gängig ist.

(1) 09.09.2022; Anti-Spiegel; Thomas Röper; Viele Journalisten und über 300 Minderjährige auf Todesliste der ukrainischen Regierung; https://www.anti-spiegel.ru/2022/viele-journalisten-und-ueber-300-minderjaehrige-auf-todesliste-der-ukrainischen-regierung/?doing_wp_cron=1663062518.5466899871826171875000

(2) 10.10.2022; Evelyn Hecht-Galinski; Olga Sucharewskaja; https://sicht-vom-hochblauen.de/feinde-der-ukraine-wie-eine-webseite-ungehindert-todeslisten-und-mordaufrufe-veroeffentlicht-von-olga-sucharewskaja/

(3) Bundeswehr; Panzerhaubitze 2000; https://www.bundeswehr.de/de/ausruestung-technik-bundeswehr/landsysteme-bundeswehr/panzerhaubitze-2000; abgerufen: 28.05.2025

(4) Bundeswehr; Raketenwerfer MARS II; https://www.bundeswehr.de/de/ausruestung-technik-bundeswehr/landsysteme-bundeswehr/mars-2; abgerufen: 28.05.2025

(5) Interessengemeinschaft Deutsche Luftwaffe e.V.; Jasmin Mähler; HIMARS — Ein Mehrfachraketenwerfer in der Luft; https://idlw.de/himars-ein-mehrfachraketenwerfer-in-der-luft

(6) 28.02.2023; Southfront; Ukrainian Nazis hunt Emergency Workers in Donetsk; https://southfront.org/ukrainian-nazis-hunt-emergency-workers-in-donetsk-video-18/

(v1) HIMARS-Angriff auf Donezk; Aufnahme einer ukrainischen Überwachungsdrohne; 23.03.2023; entnommen bei Southfront; https://southfront.press/ukrainian-nazis-hunt-emergency-workers-in-donetsk-video-18/

(Titelbild) Donbass, Krieg, Panzer, Landschaft; Autor: Flo Osrainik; 2024; Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Autors

(Allgemein) Dieser Artikel von Peds Ansichten ist unter einer Creative Commons-Lizenz (Namensnennung — Nicht kommerziell — Keine Bearbeitungen 4.0 International) lizenziert. Unter Einhaltung der Lizenzbedingungen — insbesondere der deutlich sichtbaren Verlinkung zum Blog des Autors — kann er gern weiterverbreitet und vervielfältigt werden. Bei internen Verlinkungen auf weitere Artikel von Peds Ansichten finden Sie dort auch die externen Quellen, mit denen die Aussagen im aktuellen Text belegt werden.

Von Ped

11 Gedanken zu „Donbassdonner“
  1. „Als sie dieses Recht für sich in Anspruch nahmen, wurden die Menschen dort zu Feinden erklärt. Sie wurden zu Freiwild.“
    Sie wurden zu Terroristen erklärt, daher auch die von der Putschregierung für ihr militärisches Vorgehen gegen sie so genannte ATO, Anti-Terror-Operation (das kommt wohl von der „Firma“, die sich in Kiew bereits eingemietet hatte).

  2. Geschätzter Ped, Sie erwähnen es in der Einleitung: Ein Besucher, Journalist, kriegt auf einer geführten Reise immer nur das zu sehen und hören, was die Reisebegleiter erlauben und dies aus naheliegenden Gründen. So ist ein solcher Reisebericht immer nur eine sehr bescheidene Momentaufnahme.
    Anderseits gibt es Leute, die sind nirgends „eingebunden“ und die berichten seit Jahren täglich aus und um den Donbass. Selbst erlebter, grauenhafter Alltag wird hier greifbar. Das sind für mich Helden der Berichterstattung. Bezeichnend, dass deren Namen im besten Deutschland und in der EU nicht mal mehr hinter vorgehaltener Hand geflüstert werden.
    Dass die Menschen in Donetsk und Lugansk im Hauptquartier der Meinungsmacher als „Terroristische Vereinigung“ behandelt werden ist selbstredend. (Etwas weiter südwestlich hat dagegen ein „Land“ „jedes Recht zur Selbstverteidigung“…würg…)
    Randbemerkung:
    Auch hier wird wieder von 42 Personen berichtet, die im Gewerkschaftshaus Odessa im Mai 2014 umgebracht wurden. In Berichten aus Odessa und von dortigen Spitälern war die Rede von über 120 Getöteten und über 300 Verletzten. Diese Zahlen geben der Horrorgeschichte nochmal ein anderes Gewicht.
    Ich meine, von einander abschreiben sollten wir den Müllmedien überlassen. Selbstverständlich kann auch ich nur wiedergeben, was ich irgendwo gelesen habe. Aber die Konzentration auf Primärquellen ist generell hilfreich.

    1. Hm, ist der Bericht jetzt nicht aus einer Primärquelle? Oder geht es um die Zahl der Toten von Odessa? Die 42 Toten wurden auch in russischen Medien oft genannt. Haben Sie eine Primärquelle, die Ihre Angaben (mit den abweichenden Zahlen) belegt? So richtig verstehe ich Ihre Intention nicht.
      Beste Grüße, Ped

      1. Halten wir auseinander:
        Ich vergleiche den Bericht von Jemand, der eine betreute Reise tut und dann ein Buch schreibt mit dem, was vor Ort lebende Personen unter Einsatz ihrer Existenz und ihres Lebens seit Jahren täglich berichten. Und wir wissen, was diesen Helden an „Wertschätzung“ aus der EU entgegengebracht wird. Das hier heraus zu stellen ist mir wichtig.
        Meine Randbemerkung zu Odessa:
        Nur in diesem Bezug rede ich von Primärquellen und nenne zum Beispiel den (damaligen?) Parlaments-Abgeordneten in Odessa, Wadim Sawenko.

        1. Lieber Heiri,

          Ihr Standpunkt weist uns darauf hin, dass in bestimmter Art und Weise alles eingebetteter Journalismus ist. Darauf wies ich bei Osrainiks Reisebericht hin. Jeder Journalist wird von seinem Umfeld und seinen Beobachtungen in gewisser Weise vereinahmt, und er steht so vor der Aufgabe, das angemessen zu berücksichtigen.

          Aber eingebettet in dem von Ihnen vermuteten systemischen Einbettungsjournalismus war Osrainik mitnichten. Es war eine private Reise, vermittelt durch langjährige private Kontakte und in keiner Weise unterstützt, kontrolliert oder betreut durch staatliche Behörden. Damit unterscheidet sich Osrainiks Abenteuer auch von den Reisen des von mir sehr geschätzten Thomas Röper. Aber ohne Kontakte – direkt oder indirekt – in ein Kriegsgebiet zu reisen, wäre gefährlich und fahrlässig. Eben weil dort Krieg ist. Es wäre sogar dumm.

          Ihre Primärquellen zu Odessa halte ich für wichtig. Ein Hinweis auf einen ehemaligen Parlamentsabgeordneten genügt da aber nicht.

          Beste Grüße, Ped

          1. Nein Ped:
            Familien mit Kindern, die in Kellern aufwachsen, die jedes ankommende Geschoss nach den Geräuschen identifizieren, eine Verkäuferin, die die Zerstörung ihres Lebensmittelgeschäfts zufällig überlebt und mit einem Trauma aus der Ohnmacht erwacht, die einen Tag später trocken berichtet, wie sie in ihrer zerbombten Wohnung nach Habseligkeiten suchen geht, die sind nirgends eingebettet.
            Auf Mails mit solchen Inhalten suche ich nach Worten. Da gibt es keine „angemessenen“ Antworten mehr. Wenn dann die offizielle, russische Berichterstattung einen Angriff auf genau diese Ortschaft zu genau diesem Zeitpunkt meldet…. Dann ist zumindest die persönliche Mail bestätigt…

  3. Ich hatte Odessa bis dato kaum auf dem Schirm.
    Obwohl ich schon wusste, dass Odessa zu den eher ‚russisch‘ bevölkerten (es sind halt Ukrainer, und das war bis 2014 ja auch kein Problem. Zumindest kein großes) Gebieten gehört. Ich weiß auch erst seit ein paar Monaten, wo Odessa liegt – und zwar weil ich mich mit der Rolle beschäftigt habe, die die EUTOd Rumänien zugedacht hat (Rumänien – Wahl – Militärbasen – das sind Verbindungen die ich auf dem Schirm habe). Da bin ich mehr so zufällig auch über Odessa gestolpert. Davor war das für mich ein Stadtname, den ich im wesentlichen aus Civilisation2 kannte…
    Aber ich habe die Verbindung nicht gezogen, dass das Massaker in Odessa keineswegs zufällig genau dort stattgefunden hat, sondern wegen seiner Geschichte eine Aufflammen des Konflikts genau dort in irgendeiner Form unvermeidlich war.
    Das ist mir erst bei der Lektüre hier aufgegangen.

    1. Der Beitrag von Sebastian machte mich darauf aufmerksam, dass die Meisten über das schreckliche Massaker von Odessa am 2. Mai 2014 nicht oder nur vage informiert sind. Es war vermutlich das Schlüsselerlebnis, welches im Donbas den organisierten Widerstand gegen den Terror aus Kiew entstehen liess.
      .
      Viele Dokumente von diesem 2. Mai sind inzwischen aus naheliegenden Gründen nicht mehr auffindbar. Was übrig bleibt ist immer noch jenseits aller Grenzen des Ertragbaren.
      .
      Hier ein paar Links zum Thema. Der Eulenspiegel-Blog enthält weitere Links, allerdings nichts für Zartbesaitete.
      .
      https://eulenspiegel-blog.com/2014/05/09/massaker-odessa-bestialischer-massenmord-putsch-regime-kiew-deutschen-medien-totgeschwiegen-18416002/
      .
      Der dort erwähnte „Blog von Nick-Knatterton“ existiert leider nicht mehr.
      .
      Der Bericht von „Alles Schall und Rauch“ vom 6. Mai 2014 basiert offensichtlich auf dem original-Report von livejournal:
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      http://alles-schallundrauch.blogspot.com/2014/05/opferzahl-in-odessa-ist-auf-116.html
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      Der Original Report aus livejournal in Russisch und Englisch:
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      https://falseflagenwo.livejournal.com/2014/05/06/
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      Der letzte Link in diesem Report des Grauens hat es in sich:
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      https://vlad-dolohov.livejournal.com/876486.html
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      Nach dem Gemetzel ging es den Organisatoren offensichtlich darum, Spuren zu beseitigen. Es wird von 2000 Angehörigen des rechten Sektors berichtet, die in die Stadt strömten, das Gewerkschaftshaus umstellten und dann wurde „aufgeräumt“. Es werden verschiedene Zahlen von Leichen genannt – 126 bis 217, die in Plastiksäcken abtransportiert, verbrannt und vergraben wurden.
      Ich erspare uns weitere Details. Die Links und Google-Übersetzungen geben mehr als genug her, auch für die Hartgesottensten.
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      Gegen das Vergessen.

      1. Danke Heiri+Kugler für das Zusammentragen dieser Liste! Der entsprechende Blogeintrag von „Nick-Knatterton“ wurde seinerzeit vom Internet Archive erfaßt: https://web.archive.org/web/20140621061922/http://nick-knatterton.blogspot.de/

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        Das Problem mit den Opferzahlen ist, daß man vermutlich nie herausfinden wird, wieviele es *genau* waren. Denn das würde ja voraussetzen, daß zumindest im unmittelbaren Nachgang des Verbrechens ein Aufklärungswille seitens der Behörden vorhanden war. Dieser Staat hätte sich damit aber nur selbst belastet, denn er war in die Planung, Durchführung und Vertuschung voll eingebunden, wie ja zuletzt sogar der Europäische Strafgerichtshof (mit 11 Jahren Verspätung) feststellen mußte. Es wird also bei den vielen (von den Tätern selbst live gestreamten) Videobeweisen und den Augenzeugenberichten bleiben. Im öffentlichen Sprechen über dieses Ereignis sollten wir aber in der Tat immer darauf achten, die Zahl zumindest mit dem Wort „mindestens“ zu qualifizieren. Wie Sie aber selber schon feststellten – über die Grausamkeit und Menschenverachtung, mit der diese Morde begangen wurden, sagt so eine Zahl ohnehin gar nichts.

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        Es gibt übrigens auch ein Buch über das Massaker, mit einem Bericht des Überlebenden Oleg Muzyka und etlichen Interviews in dt. Medien. Er wurde später auch von den Nachdenkseiten interviewt: https://www.nachdenkseiten.de/?p=51384. Auch er spricht nur von 48 Toten. Aber das muß wie gesagt nichts heißen, da es ja seitens der Behörden statt Spurensicherung nur Spurenbeseitigung, statt Ermittlung nur Veschleppung, statt Bestrafung der Schuldigen nur Verhöhnung der Opfer gab.

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        https://www.nachdenkseiten.de/?p=51371 erwähnt weiter Dokumentarfilme. Später gab es auch noch einen von Wilhelm Domke-Schulz: https://odysee.com/@OrthodoxeBruderschaft:0/Remember-Odessa-(Dokumentarfilm-von-Wilhelm-Domke-Schulz):b

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        In Dresden machen wir seit einigen Jahren am 2. Mai immer eine Straßenausstellung dazu. Nachfolgend ein Text, den man dieses Jahr dort hören konnte:

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        Berlin, 2. Mai 1933 – Odessa, 2. Mai 2014

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        Heute vor 92 Jahren stürmten SA-Truppen reichsweit Gewerkschaftshäuser und -büros, Gewerkschaftsfunktionäre wurden verhaftet und in die ersten KZ gesperrt. Gewerkschaften und Kommunisten waren die Hauptgegner der Nazis, also wurden sie ihre ersten Opfer.

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        Heute vor 11 Jahren stürmte ein mit Eisenstangen, Baseballschlägern und Molotow-Cocktails bewaffneter, mit Schilden, Helmen und Masken bewehrter nazistischer Mob das Antimaidan-Protestcamp auf dem Kulikowo Polje in Odessa, und setzte später das Gewerkschaftshaus in Brand, in das sich viele Aktivisten geflüchtet hatten. Auf die Menschen an den Fenstern des verbarrikadierten Hauses wurde geschossen, die nur 1km entfernte Feuerwache wurde am Ausrücken gehindert. Wer versuchte zu entkommen, wurde mit Stangen zu Tode geprügelt. Ihren Blutrausch dokumentierten die Täter auch noch selber filmisch in großer Breite, teilweise sendeten sie sogar live im Internet.

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        An diesem Freitag (einem Brückentag wie heute) wurden in Odessa mindestens 50 wehrlose Menschen ermordet, darunter Frauen und Kinder, und hunderte weitere verletzt. Sie gehörten zum Antimaidan, der friedlichen Widerstandsbewegung gegen die Putsch-Regierung in Kiew, getragen v.a. von Linken und orthodoxen Christen. Sie hatten in diesen Wochen auf dem Platz noch versucht, eine Volksabstimmung zur Gewährung von Autonomierechten für den Verwaltungsbezirk Odessa durchzuführen. Zuvor hatte ihrerseits die autonome Republik Krim von ihrem verfassungsmäßig verbrieften Wahlrecht Gebrauch gemacht und sich mit überwältigender Mehrheit der Russischen Förderation angeschlossen (eine Mehrheit übrigens, die in den Folgejahren auch von westlichen Meinungsforschungsinstituten immer wieder bestätigt wurde). Auch in den anderen Süd- und Ostprovinzen wollten die meisten Bürger mehr Föderalismus, u.a. um weiter russisch sprechen dürfen. Dafür wurden sie von den Maidan-Anhängern als „prorussische Separatisten“ und „Moskalen“ bezeichnet und bekämpft. Sie waren die Hauptgegner der Faschisten, also wurden sie ihre ersten Opfer.

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        Davon erzählt heute unsere Ausstellung.

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        Bis zu diesem Ereignis konnten die normalen Bürger im Land vielleicht noch glauben, daß auch diese Kiewer Regierung wieder gehen würde, wie sie gekommen war. Mit dem Massaker vom 2. Mai 2014 in Odessa aber wurde allen klar, daß nichts mehr so sein würde wie bisher. Es war der Staat selber, der das Pogrom duldete und beaufsichtigte, der die Täter fortan vor juristischer Verfolgung schützte, während er die Überlebenden sogleich verhaftete. Die (meist von Oligarchen finanzierten) nazistischen Terrorbanden hatten nun die Macht übernommen, und zur Festigung derselben begannen sie wie ihre Vorbilder 90 Jahre zuvor mit dem Mord am politischen Gegner. Bald darauf schon würden sie auch mit Jagdbombern auf Lugansk und mit Panzern auf Donetsk losschlagen, wo die Bürger ebenfalls auf ihre Rechte pochten…

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        Im Westen allerdings hörte und sah man gar nichts von alldem – wie auf Verabredung herrscht hier bis heute eine Mauer des (Tot-)Schweigens. Und als obendrein nur wenige Tage später BP Frank-Walter Steinmeier den Ort des Grauens besucht und auch ihm dabei kein Sterbenswort öffentlich über die Lippen will, konnte man das eigentlich nur noch als Geste „Wir werden Euch decken“ deuten. Es handelt sich immerhin um den obersten Repräsentanten einer der Garantiestaaten jener Vereinbarung zw. Janukowitsch-Regierung und Maidan-Opposition, die 3 Monate zuvor keine 24 Stunden nach Inkrafttreten von den Putschisten gebrochen wurde.

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        Erst vor einigen Wochen, Ende März 2025, gab es allerdings doch noch spät eine westliche Reaktion: der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg fand sich endlich dazu bereit, die Ukraine für die Mitschuld an den Morden in Odessa zu verurteilen: weil sie den Gewaltausbruch nicht verhindert, die Angegriffenen nicht geschützt oder gerettet, und die Täter nicht ermittelt und bestraft hat. Bislang galt das bei uns als russische Propaganda.

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        Einen Tag später wurde übrigens Demjan Ganul, einer der Hauptdrahtzieher des Verbrechens und seinerzeit Chef der Terrorgruppe „Rechter Sektor“, in Odessa auf offener Straße erschossen. Der zeitliche Zusammenhang zu dem Straßburger Urteil und die näheren Umstände lassen aber vermuten, daß hier lediglich ein Mitwisser beseitigt wurde, um die Verstrickung höherer Kreise zu verdunkeln.

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        Faschismus ist nicht schwer wiederzuerkennen – aber wenn er sein Gift erst in die Köpfe und Herzen der Menschen gesenkt hat, umso schwerer wieder loszuwerden, so scheint es.

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        Selbstredend hat wirklicher Faschismus (von dem hier die Rede ist) nichts mit dem zu tun, was uns hierzulande mittlerweile allwöchentlich als solcher verkauft werden soll. Und natürlich ist der Faschismus des 21. Jahrhunderts nicht derselbe wie der des 20. Aber der neue bedient sich schon auffallend häufig und ungeniert – zumindest in der Ukraine – der „Helden“ und Symbole des alten. Die Massenmörder von einst, vor deren Grausamkeit noch die sie befehligenden SS-Generäle es mit der Angst zu tun bekamen, und deren Untaten sich als dunkles Grauen in das kollektive Gedächtnis gleich mehrerer Völker eingeschrieben haben: Juden, Polen, Russen. Seit 2014 gelten in der Ukraine Stepan Bandera und Roman Schuchewitsch als Nationalhelden, für die Denkmäler errichtet und Fackelzüge organisiert werden. Ihr Schlachtruf: „Slawa Ukraini“ wird mittlerweile sogar von Mitgliedern des Bundestags und vom Bundeskanzler nachgeplärrt.

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        Lassen Sie uns alle gemeinsam wachsam sein, damit diese Schande bei uns nicht weiter Schule macht. Hoffen und beten wir, daß der faschistische Spuk auch in der Ukraine bald vorbei ist und die Brüdervölker zur Versöhnung finden.

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