Es deutet einiges darauf hin, dass die mediale Berichterstattung ihre „Methode Mariupol“ weiterführt.


Nur, dass es dabei nicht mehr um Mariupol, sondern zunehmend um die Millionenstadt Charkow geht. Die „Methode Mariupol“ ähnelt wiederum der „Methode Butscha“ und lautet zusammengefasst: Übernimm die Perspektive eines Kriegsteilnehmers und verbreite unreflektiert wie unkritisch dessen propagandistische Berichterstattung. Das Problem dabei ist, dass solch ein Vorgehen Kriege verlängert und eskalieren lässt, was mit dem Verlust von Menschenleben bezahlt wird.


Dabei unterstelle ich den Medienverantwortlichen nicht einmal Vorsatz. Zumindest nicht Vorsatz im Sinne von Bösartigkeit. Vielmehr erkenne ich in deren Arbeitsweise ein konsequentes wie routinemäßiges Abrufen emotional geprägter, holzschnittartiger Muster. Sie befinden sich in einem Zustand der Realitätsverweigerung, um die Illusion aufrecht erhalten zu können, dass man die Welt und das, was in dieser geschieht, vollständig verstanden hat. Sie scheuen die Unschärfe, die Unsicherheit, die vielen unbequemen Fragen, die sich umgehend stellten, so sie es wagen würden, die Realität auf sich wirken zu lassen.

Freilich: Der Versuch, die Realität zu verstehen, kann grundsätzlich nicht vollständig erfolgreich sein. Das liegt in der Natur der Dinge. Außerdem ist der Prozess mühsam und verlangt das Zulassen von Skepsis und Reflexion. Doch ist genau das unabdingbar, um sich der Realität anzunähern. Opportunismus und Ängste können dies zu einer unüberwindbaren Herausforderung machen.

Die relevante Filmsequenz beginnt mit diesem Bild. Außer dem Vorhandensein eines Kraters gibt uns das Bild keine weiteren Informationen. Aber wir sollen es „geeignet“ interpretieren und dafür ist die Sprache da. Das Bild muss wiederum zur sprachlichen Botschaft passen. Tut es das? Im ersten Augenblick, und das ist der entscheidende beim Medienkonsumenten, tut es das gewiss (b1):

Der „geeignete“ Ton zum Bild lautet so: „Nahezu ständig treffen Drohnen und Raketen Wohngebiete in der Millionenstadt Charkow.“ (1, 2)

Zu sehen ist ein beeindruckender Krater, Hinterlassenschaft eines Geschosses, das mit gewaltiger kinetischer Energie in den Asphalt und den verdichteten Boden unter diesem eingedrungen ist. Sehen wir die Realität? Oder verbinden wir das Bild mit einem der sparsam wie wirkmächtig gestalteten Muster, die wir in unseren Köpfen herum schleppen? Konsumieren wir die Nachricht, die definitiv ein Narrativ stützen soll und genau deshalb so gestaltet wurde? Oder sind wir wach genug, eine aufkommende Dissonanz produktiv zu verarbeiten? Dann sind wir rasch in der Lage zu erkennen, dass die uns vermittelten Botschaften widersprüchlich sind und auf unsere Oberflächlichkeit setzen.

Wir sehen also diesen Krater. Ein Krater, der noch so große Artilleriegeschosse als Verursacher ausschließt. Der auch „normale“ Raketen ausschließt. Da könnte sich uns eine Frage stellen:

Schießen „die Russen“ so ungenau oder schießen „die Russen“ ausgesprochen präzise?

Ein Interview zu dem Vorfall wurde mit dem Bürgermeister von Charkow, Ihor Terechow geführt — garniert mit gut sichtbaren Hochhäusern eines Wohngebietes im Hintergrund. Dazu wurden Kräne an Wohnhäusern samt zerborstener Fensterscheiben gezeigt, allerdings keine zerstörten Wohngebäude. Das Gleiche gilt für die in dem Bericht gezeigten Einspieler aus Saporoshje.

Wie lautete der Begleitton: „Nahezu ständig treffen Drohnen und Raketen Wohngebiete in der Millionenstadt Charkow.“ Sekunden nach Terechows Stellungnahme sehen wir im Videobeitrag also dieses Bild (b2):

Was zeigt uns dieses Aufnahme? Dass hier ein Wohngebiet durch den Beschuss von Drohnen und Raketen in Mitleidenschaft gezogen wurde? Davon kann keine Rede sein. Das sieht alles intakt aus — mit einer Ausnahme. Denn unübersehbar ist freilich, dass, wie schon erwähnt, am Hochhaus im Vordergrund eine Reihe von Scheiben zu Bruch gegangen ist. Das hängt zweifellos mit dem Geschoss zusammen, das etwa 200 Meter von diesem Gebäude entfernt eingeschlagen ist. Die ARD zitierte dazu den Charkower Bürgermeister:

„Durch den Beschuss mit umfunktionierten Flugabwehrraketen vom Typ S-300 seien neun Wohnhäuser, Wohnheime, ein Verwaltungsgebäude, ein Kindergarten, ein Café, eine Autowaschanlage und ein Tankstellengeschäft sowie mehrere Fahrzeuge beschädigt worden.“ (2i)

Es sind Journalisten vor Ort. Es wird gefilmt und ein Bürgermeister gibt ein Interview. Aber Aufnahmen, die die aufgeführten Schäden belegen könnten, werden nicht gezeigt — warum? Spielt das eine Rolle? Ja, natürlich tut es das. Denn die Nachricht hat eine Botschaft. Die Nachricht ist eine Konstruktion. Und der Zweck des Ganzen besteht darin, den emotionalen (!) Nachweis zu erbringen, dass russische Streitkräfte ein weiteres Mal zivile Infrastruktur angegriffen hätten. Dieses Narrativ soll beim Konsumenten zementiert werden.

Das folgende Bild finden Sie nicht im ARD-Beitrag. Sie finden es auch sonst nirgendwo in unseren Qualitätsmedien. Obwohl das Material vom ukrainischen Propagandaministerium angeboten wurde. Und obwohl man selbst dieses Video zurechtgeschnitten hat (3). Die ungeschnittene Version finden wir auf russischen Plattformen (4). Aber ich bin mir ausgesprochen sicher, dass die ARD Zugang zu all diesem Bildmaterial hatte. Sie sehen ein weiteres Mal Charkows Bürgermeister. Er steht direkt an dem monumentalen Einschlagkrater (b3). Was fällt auf?

Nun, es fällt auf, dass westliche Journalisten vor Ort waren. Denn unübersehbar wird dem Bürgermeister auch ein Mikrofon des italienischen Staatssenders RAI entgegengestreckt. Mindestens ein westlicher Journalist hat alles gesehen und sein Filmteam einen 360-Grad-Schwenk um den Einschlagkrater herum aufgenommen. Darin enthalten ist dann auch das folgende Objekt. Interessanterweise hat das wiederum die ARD-Tagesschau für ihre Berichterstattung übernommen. Es sieht ja auch so schön kaputt aus und ist damit für die Botschaft (siehe oben) geeignet. „Nur“ der Kontext fehlt (b4):

Lassen Sie sich nicht täuschen, liebe Leser. Das Einkaufszentrum ist gar nicht so in Mitleidenschaft gezogen, wie Sie es jetzt empfinden. Es war und ist nämlich noch im Bau. Die Strukturen des Gebäudes sind komplett erhalten. Das Einkaufszentrum steht mehrere hundert Meter entfernt von den gegenüber im zweiten Bild gezeigten Hochhäusern. Und mitten auf die freie Fläche zwischen den Gebäuden ist was eingeschlagen — eine „umfunktionierte S-300-Flugabwehrrakete“?

Es ist fraglich, ob eine solche Rakete das hier sichtbare Schadensbild erzeugen kann. Vor allem aber fragt man sich, warum „die Russen“ nicht längst den Krieg in der Ukraine verloren haben. Denn: So viele große Gebäudekomplexe stehen da wie auf dem Präsentierteller. Riesenobjekte, in die man einfach nur „reinzuhalten“ bräuchte, um maximalen Schaden in ziviler Infrastruktur anzurichten. Und was tun „die Russen“? Sie zielen genau dort hin, wo gar nichts ist.

Willkommen im Narrativ. Oder andersherum: Was ist faul an der Geschichte?

Wir haben unseren Blick weiter nach links gewendet. Rechts ist das gerade erwähnte, im Bau befindliche Einkaufszentrum zu sehen, im Vordergrund rechts der bereits mehrfach gezeigte Krater. Aber was ist denn das am linken Bildschirmrand (b4)?

Tja, liebe Medienkonsumenten: Das ist der fehlende Kontext. Wenn man den nicht bereit ist zu suchen, weil die aufbereitete Nachricht, nach der man sich schließlich richten möge, keinerlei inneren Widerspruch herausfordert, dann bleibt man auch hängen in der Manipulation. Aber ein wacher Geist erkennt die Widersprüche auch, wenn er keinen Zugriff auf diesen Kontext hat. Im hier betrachteten Fall weist uns der völlig zerstörte Mehrfachraketenwerfer (MRLS) vom Typ BM-27 Uragan darauf hin, dass ein militärisches Objekt angegriffen wurde — und eben keine zivile Infrastruktur (5, 6, b5):

Der BM-27 Uragan wurde noch zu Sowjetzeiten entwickelt und ist nach wie vor im Bestand der ukrainischen Armee. Es handelt sich um eine mörderische Waffe, die innerhalb von 20 Sekunden 16 Raketen mit einem Kaliber von 220 Millimetern, gefüllt mit Clustermunition, 35 Kilometer weit schießen kann (7). In der ukrainischen Version hat man den BM-27 modifiziert und so die Reichweite der Raketen auf 65 Kilometer erhöhen können (8). Der nördliche Bezirk Schewtschenkowo, Ort des Ereignisses, liegt kaum 30 Kilometer von der russischen Grenze entfernt. Fügen wir dem Ganzen noch hinzu, dass es sich um zwei MRLS handelte, die offenbar von einer einzigen Rakete, wahrscheinlich einer Iskander, zerstört wurden. Wobei der zweite Uragan faktisch pulverisiert wurde, nachdem auch noch seine Raketen explodiert waren (9). Denn er stand dort, wo nun der Krater zu sehen ist (8i).

Von entscheidender Bedeutung ist, zu wissen, dass Charkow zu einem Kriegsgebiet geworden ist. So etwas geschieht dann, wenn man zivile Infrastruktur missbraucht, um sich einen Vorteil im Krieg zu verschaffen. Und Charkow ist deshalb zum Kriegsgebiet geworden, weil es von den ukrainischen Strategen für diesen Zweck ausgewählt wurde — nicht etwa von den russischen!

Die russischen Streitkräfte haben inzwischen eine Lufthoheit über großen Teilen der Ukraine gewonnen, die einer Luftherrschaft nahekommt. Russische Aufklärungsdrohnen können nicht mehr ausreichend bekämpft werden und diese suchen systematisch nach Einrichtungen, welche für die ukrainische Armee relevant sind: Sammelpunkte, militärisches Gerät samt der dafür betriebenen Reparatur- und Produktionsanlagen, Munitions- und Waffenlager, Öl- und Treibstoff-Depots. Ziele, die sodann mit Präzisionswaffen angegriffen werden (10).

Der Zweck dieses Vorgehens ist schlüssig: Die ukrainischen Streitkräfte werden mehr und mehr ihrer Fähigkeit beraubt, Krieg zu führen, während die russischen Streitkräfte ihre Verluste minimieren. Mit einem Krieg gegen die Zivilbevölkerung — die ungeachtet dessen natürlich trotzdem in mehr oder weniger gravierender Weise vom Kriegsgeschehen betroffen ist — lässt sich das nicht gleichsetzen.

Bitte bleiben Sie schön aufmerksam, liebe Leser.


Anmerkungen und Quellen

(Allgemein) Dieser Artikel von Peds Ansichten ist unter einer Creative Commons-Lizenz (Namensnennung — Nicht kommerziell Keine Bearbeitungen 4.0 International) lizenziert. Unter Einhaltung der Lizenzbedingungen kann er — einschließlich der Primärquelle — gern weiterverbreitet und vervielfältigt werden. Bei Verlinkungen auf weitere Artikel von Peds Ansichten finden Sie dort auch die externen Quellen, mit denen die Aussagen im aktuellen Text belegt werden.

(1) 06.04.2024; ARD-Tagesschau; Ukraine-Krieg: Erneut landesweit russische Angriffe; https://www.tagesschau.de/multimedia/video/schnell_informiert/video-1324318.html

(2, 2i, b4, Titelbild) 06.04.2024; ARD-Tagesschau; Mehrere Tote bei russischem Angriff auf Charkiw; https://www.tagesschau.de/ausland/europa/ukraine-charkiw-136.html

(3) 06.04.2024; Reporter; Details of strikes by the Russian Armed Forces on targets in Kharkov and Ilyichevsk have become known; https://en.topcor.ru/46150-stali-izvestny-podrobnosti-udarov-vs-rf-po-harkovu-i-ilichevsku.html

(4) 08.04.2024; Top War; A professor at the German Military University said that “the Russian attack on Kharkov could go through Kramatorsk”; https://en.topwar.ru/240051-professor-voennogo-universiteta-frg-zajavil-chto-rossijskoe-nastuplenie-na-harkov-mozhet-pojti-cherez-kramatorsk.html

(5) https://twitter.com/wladsan/status/1776669321181167964

(6) https://t.me/vysokygovorit/15289

(7) https://en.wikipedia.org/wiki/BM-27_Uragan

(8, 8i) 06.04.2024; RT deutsch; Charkow: Russland zerstört ukrainische Mehrfachraketenwerfer mitten in Wohngebiet; https://freedert.online/europa/201826-charkow-russland-zerstoert-ukrainische-mehrfachraketenwerfer-mitten-in-wohngebiet/

(9) https://t.me/s/infomil_live/5475

(10) 09.04.2024; Southfront; IN VIDEO: RUSSIAN PRECISION STRIKES DESTROYED UKRAINIAN FUEL DEPOT IN KHARKIV; https://southfront.press/in-video-russian-precision-strikes-destroyed-ukrainian-fuel-depot-in-kharkiv/

(b1, b2) ARD-Tagesschau, Ukraine-Krieg, Manipulation; Raketenangriff; 06.04.2024; Bildschirmschnappschuss aus Video: https://www.tagesschau.de/multimedia/video/schnell_informiert/video-1324318.html

(b3) Charkow, Raketenangriff, Bürgermeister, Interview, Bildschirmschnappschuss; RAI news24; 06.04.2024; vk; Grigory Tarasenko; https://en.topcor.ru/46150-stali-izvestny-podrobnosti-udarov-vs-rf-po-harkovu-i-ilichevsku.html

(b4, b5) Charkow, Raketenangriff, Einkaufszentrum, Raketenwerfer, MRLS; 06.04.2024; Starsche Eddy (russischer Militärblog); https://t.me/vysokygovorit/15289

Von Ped

2 Gedanken zu „Von ziviler Infrastruktur zum Kriegsgebiet“
  1. +++ Öffentlich-rechtlicher Rundfunk gibt zu, dass er tatsächlich Staatsfunk ist +++

    Es dürfte allgemein bekannt sein, dass den Gebührenerpressern des sogenannten öffentlich-rechtlichen Rundfunks kein Euro zu schade ist, wenn es darum geht, die Schäfchen per Propaganda und Demagogie auf Linie zu halten (bevor auf der nächsthöheren Stufe das Tandem Faeser / Haldenwang übernimmt); wie einmal mehr im aktuellen Artikel belegt.

    Manchmal, wenn auch viel zu selten, rutscht denen jedoch durchaus ein Körnchen Wahrheit durch; so als ein “MrWissen2go” bei “Funk” (“Funk ist Teil des öffentlich rechtlichen Rundfunks”) den Erklärbär mimte:

    “Was passiert, wenn die AfD in Deutschland regiert?” (Im Video ab min. 3:08)

    “Die Mehrwertsteuer soll allgemein auf 12 % gesenkt werden (…) Gleichzeitig will die AfD den Steuerfreibetrag aufstocken (…). Abgeschafft werden sollen u.a. die Erbschaftssteuer und auch der Rundfunkbeitrag. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsförderung hat ausgerechnet, rund 130 Mio € pro Jahr würde der Staat dadurch weniger einnehmen.”

    Abgesehen davon, dass er das von ihm zitierte Institut falsch benennt und mit einer signifikanten Dyskalkulie behaftet zu sein scheint (allein der Rundfunk greift um die 8 Mrd. Euro ab, aber genau für solche Leute gibt es diese Art von Bullshitjobs), sagt er:

    Ohne Rundfunkbeitrag hat der Staat weniger Einnahmen.

    q.e.d

    () https://www.youtube.com/watch?v=z8sEN9K3LEg

  2. Ich danke Peter Frey, dem hiesigen Blog-Betreiber, für seinen sehr gut argumentierenden Artikel auf Manova: „Schulen für den Krieg“ ( https://www.manova.news/artikel/schulen-fur-den-krieg ).
    Seit Jahren wurden die Lehrer, eine ohnehin sehr „gehörige“ Berufsgruppe, auf Linie getrimmt. Entlasse einen, erziehe hundert. Dieses Credo ist auch beim „Sieben“ der Polizisten angewandt worden. Was dieses nicht verrichtete, erreichte der Korpsgeist.
    Somit könnte der lesenswerte Artikel auch mit „Lehrer für den Krieg“ überschrieben werden.
    Und doch gibt es immer noch Mutige unter den Beamten!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.