Oder auch: Der Wert der Dissonanz
Werden uns Dinge klar, fühlen wir uns befreit, gelassen und entspannt. Klarheit zu erlangen ist wohl gerade deshalb auch Teil unseres Wesens. Doch was tun wir mit ihr, wenn sie — einmal da und beruhigend — irgendwann wieder gestört wird? Wenn sie sich im Nebel des Unbestimmbaren, aber noch mehr durch aufkommende Widersprüche aufzulösen droht?
Zwei Hauptgründe, die mit konträren emotionalen Stimmungen verbunden sind, treiben mich an, Gedanken niederzuschreiben: Dissonanz und Erkenntnis.
Was können wir daraus entnehmen? Was ist überhaupt Dissonanz?
Kognitive Dissonanz beschreibt einen unangenehmen psychologischen, spannungsgeladenen inneren Zustand, der durch einander widersprechende Wahrnehmungen und Erkenntnisse hervorgerufen wird. Wir neigen nachvollziehbar dazu, nach einmal getroffenen Entscheidungen die zugrunde liegenden Informationen als richtig zu bewerten. Schließlich gehen wir ja auch von der Richtigkeit unserer Entscheidung aus. Erst recht dann, wenn die darin gesteckten Erwartungen wiederholt erfüllt werden.
Informationen, die das in Frage stellen, stören diese früheren, von uns einmal als richtig eingestuften und wiederholt durch praktische Erfahrungen bestätigten Entscheidungen. Ein tatsächlich erkannter Irrtum kann diese Dissonanz schließlich erfolgreich auflösen, in dem neue Erkenntnisse nicht nur wahrgenommen, sondern auch verarbeitet und angenommen wurden (1). Das ist ein Weg, mit Dissonanzen umzugehen, es gibt aber noch einen weiteren.
Die Dissonanz greift von außen auf etwas in meinem Inneren Gefestigtes zu und stellt es damit in Frage. Sie beunruhigt mich und stört mein Gleichgewicht. Sie bringt Unordnung in die Ordnung meiner Erkenntnis (b1).
Dissonanz stört. Sie ruft uns auf, Energie zu investieren, um das Gleichgewicht, das sich in einer widerspruchsfreien, harmonischen Geisteswelt abbildet, wiederherzustellen. Unsere, durch Dissonanz angegriffene „heile Welt“ ist ein inneres Sehnen in jedem von uns, um einen energiesparenden, harmonischen Lebensrhythmus zu erreichen. Aber „die heile Welt“ ist eben auch ein schlechter Trainer für die Unvorhersehbarkeiten unseres Seins. Das Zurückziehen auf diesen Zustand macht uns träge, unflexibel, dogmatisch und damit auch leichter angreif- und verletzbar.
Wohl deshalb gibt es in uns auch einen Antrieb, um regelmäßig Energie zu investieren, damit wir diesen Zustand der „heilen Welt“ aufbrechen, und wenn wir es nicht selbst tun, werden wir irgendwann darauf gestoßen. Dann ist sie aber erst einmal dahin, die Klarheit der „heilen Welt“.
Hier kann sich uns ein Zusammenhang zwischen Dissonanz und Erkenntnis erschließen. Das hängt allerdings davon ab, wie wir Dissonanz begreifen, reflektieren, ob wir überhaupt zur offenen Reflexion von Dissonanz in der Lage sind. Ob unser Ego sich angegriffen fühlt, weil seine Fehlbarkeit offensichtlich wurde. So einfach ist das nämlich nicht, schließlich kommt Dissonanz aus dem emotionalen Teil unseres Gehirns, ist tiefgreifend und als solche auch tiefgreifend aufrüttelnd. Bewährte Denk- und Verhaltensmechanismen werden auf einmal grundlegend in Frage gestellt.
Dissonanz tritt auf, wenn ein erlerntes und quasi vielfach erprobtes Erlebnis plötzlich in Frage gestellt wird. Dazu ein kleines Beispiel:
Uns wurde immer und immer wieder erzählt, dass ein ganz bestimmter Mensch böse und charakterlich verwahrlost geprägt ist. Dazu wurden uns wiederholt Vorkommnisse vorgetragen, die uns jene Verwahrlosung „beweisen“ wollen. Es wurde jedoch nichts bewiesen, es wurde lediglich etwas behauptet. Unser emotionales Gehirn fragt aber nicht nach Plausibilität, es ist einer solchen manipulativen Beeinflussung schutzlos ausgesetzt. Also speichern wir die „Beweise“ für die Bösartigkeit des Verfemten ab. In unserem Gehirn werden „böse Handlungen“ mit dem genannten „bösen Menschen“ verknüpft. Im ersten Schritt können wir dagegen wenig tun, denn hier werden für uns überlebensnotwendige Mechanismen missbraucht.
Nun kommt uns allerdings zu Ohren, dass dieser angeblich böse Mensch unter Einsatz seines Lebens ein Kind aus einem sturmgepeitschten See gerettet hat. Wenn wir so etwas erfahren, nimmt unser emotionales Gehirn natürlich auch dies auf. Wir werden berührt — und wir geraten in Dissonanz. Denn es tut sich der Widerspruch auf, dass ein „böser Mensch“ eine „gute Tat“ begangen hat.
Beide Wahrnehmungen sind tief in unserem limbischen System verankert, wobei dieses limbische System gegen unser zur Reflexion befähigtes Großhirn erst einmal stets gewinnt. Da gibt es nämlich die Amygdala, den quasi Hauptschalter unseres Warn- und damit Überlebenssystems. Diesen Hauptschalter nutzt übrigens Propaganda ganz gezielt für sich aus. Denn diese „weiß“, dass als erstes etwas in uns angesprochen wird, das sich rationalen, streng logischen Kriterien entzieht. Propaganda zielt auf unser emotionales Gehirn. Unser emotionales Gehirn kann nicht die Lüge von der Wahrheit unterscheiden. Unser emotionales Gehirn ist ein Glaubenssystem, das durch Konditionierung ausgeprägt wird.
Wir können Dissonanz auch bequem in uns besänftigen, indem wir weitere Versatzstücke aus unserem emotionalen Gehirn abrufen. In diesen ist nicht die nüchterne Ratio entscheidend, sondern ein durch stetige Konditionierung entwickeltes inneres Programm, welches Aspekte miteinander verknüpft, ohne dass diesen eine innere Logik innewohnen muss. Doch wenn wir vermeiden, die Entscheidungen unseres emotionalen Gehirns zu überdenken, zu reflektieren, in Frage zu stellen, dann laufen wir Gefahr, der Realität zu entfliehen. Einer Realität zu entfliehen, die uns trotzdem irgendwann einholen wird.
Wie gesagt, besänftigen wir auf diese Art und Weise nur unsere Dissonanz. Wir sedieren sie und das damit verbundene, in uns aufkommende schlechte Gewissen. Auflösen können wir sie so nicht. Aber in uns ist auch ein starkes, sich immer wieder erneuerndes Streben nach Klarheit.
Klarheit ist ein Kick, ein verdienter Kick. Denn Klarheit stellt das erfüllende Verharren eines Zustandes innerhalb unseres fortwährenden Erkenntnisprozesses dar. Klarheit ist der Lohn für die Energie, welche man zuvor in den Prozess einbrachte. Klarheit ist ein Wegpunkt, der anzeigt, dass wir erfolgreich Dissonanz bewältigten, irgendwann bereit waren, aus dem gewohnten, liebgewordenen Denk- und Verhaltensmuster auszubrechen. Klarheit ist ein Moment des Glücks.
Klarheit ist die in ein neues ganzheitliches Bild gebrachte, neue Stufe von Erkenntnis.
Erkenntnis erfüllt. Sie ist diese Art von heureka (lateinisch „ich habe es gefunden“). Erkenntnis hat etwas mit Glück zu tun. Die Erkenntnis weckt in mir den Wunsch, sie mitzuteilen. Nicht, um mich in der Überhebung des Wissenden zu sonnen, sondern um mein Staunen, auch gern Glück der Erkenntnis genannt, zu teilen.
Erkenntnis fügt die Dinge wieder zusammen und stellt so auch das innere Gleichgewicht wieder her. Um dieses innere Gleichgewicht herum pendeln wir eigentlich — und das ist sehr schön so. Sind wir krampfhaft bestrebt, an einem scheinbar optimalen, vielleicht dem höchsten Punkt zu verharren, dann erstarren wir. Erstarrung ist Stillstand. Vor allem können wir nicht mehr unsere Perspektive ändern. Wir geraten sogar in Gefahr, vor dieser Perspektivänderung in Angst zu geraten.
Das Festhalten an dem Punkt unseres inneren Gleichgewichts ähnelt dem Festhalten an der vermeintlich absoluten Wahrheit. Es ist ein Stehenbleiben auf dem Weg der Erkenntnis.
Das gerade nicht Eindeutige, das Verschwommene, sich Verändernde, ist wohl das, was unsere Neugier und damit unsere geistige Beweglichkeit am Leben hält. Doch ist es erforderlich, dass wir bereit sind, diese Unschärfe als einen Teil der Normalität unserer Existenz anzuerkennen und mehr noch als bereichernd zu begreifen.
Die erfolgreiche Suche nach Klarheit ist ein Prozess, der reich an Glücksmomenten sein kann. Weil jede erreichte Klarheit umgehend neue Fragen, neue Unschärfen, neue Welten eröffnet. Diesen erfüllenden, gesunden Prozess kann man aber leider auch aushöhlen. Man kann unser Streben nach Klarheit torpedieren, in dem man uns überfordert. Zum Beispiel damit, dass man uns pausenlos mit Informationen bombardiert, welche Dissonanz hervorrufen müssen, weil diese ganz offensichtlich widersprüchlich sind. Der Prozess, Widersprüche aufzulösen, erfordert jedoch nicht nur Energie, sondern auch Kapazitäten, wovon eine der wichtigsten die Zeit ist.
Machen wir einfach weiter oder lassen uns erbarmungslos von der Informationsmaschine antreiben, kommen wir nicht zum Innehalten. Dann sind wir unfähig, den gegangenen Weg zu überdenken und neue Wege zu erkennen. Bei einer Überforderung kann es gar so weit gehen, dass wir im wahrsten Sinne des Wortes innerlich kapitulieren und nicht mehr in der Lage sind, die Dissonanzen aufzulösen. Und das geschieht auch!
Psychologische Kriegsführung macht sich so etwas zunutze. Aber wie kann man damit umgehen? Sind wir solchen Mechanismen schutzlos ausgesetzt?
Zwei sehr dienliche, dem Menschen innewohnende Fähigkeiten sind es, die uns signalisieren, wenn wir an Erkenntnis, an der Auflösung von Dissonanzen gehindert werden sollen: Reflexion und Achtsamkeit. Wir können es auch Herz und Verstand oder (reflektierendes) Hirn und Bauchgefühl nennen und am besten funktioniert es, wenn wir in der Lage sind, beides kombiniert zu nutzen. Wo Wissen fehlt, kann uns unser Herz mahnen. Wo unser Bauchgefühl uns alarmiert, kann uns Erkenntnis — also reflektierend aus Dissonanz geschöpfte Klarheit — eine Stütze sein.
Und wir sollten uns nicht überschätzen. Wann und wo auch immer möglich, sollten wir uns dem Raum, in dem wir mit emotionalen Nachrichten bombardiert werden, schlichtweg entziehen. In einem solchen Raum läuft sie nämlich, die psychologische Kriegsführung.
Andererseits stehen wir aber auch selbst in der Verantwortung, die Informationsräume, die wir aufspannen, als Räume eines offenen, achtungsvollen Diskurses zu gestalten. In denen der Gewinn im Sinne eines kooperativen Spieles lebendiger Geister ein kollektiver ist. Als Räume, in denen Dissonanzen als positive Signale im Ringen um Erkenntnis verstanden werden, was schließlich allen Beteiligten zugute kommt (b2).
Bitte bleiben Sie schön achtsam, liebe Leser.
Anmerkungen und Quellen
(Allgemein) Dieser Artikel von Peds Ansichten ist unter einer Creative Commons-Lizenz (Namensnennung — Nicht kommerziell — Keine Bearbeitungen 4.0 International) lizenziert. Unter Einhaltung der Lizenzbedingungen — insbesondere der deutlich sichtbaren Verlinkung zum Blog des Autors — kann er gern weiterverbreitet und vervielfältigt werden. Bei internen Verlinkungen auf weitere Artikel von Peds Ansichten finden Sie dort auch die externen Quellen, mit denen die Aussagen im aktuellen Text belegt werden.
(1) Dorsch, Lexikon der Psychologie; Kognitive Dissonanz; https://dorsch.hogrefe.com/stichwort/kognitive-dissonanz; abgerufen: 13.06.2024
(b1, b2) 2015; Corinna und Steffen Duck; Grün und blau geht Kaspers Frau, Experimentelles Puppentheaterschauspiel (Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung der Autoren)
(Titelbild) Fragezeichen, Rätsel, Quiz; Arek Socha (Pixabay); 30.11.2016; https://pixabay.com/de/illustrations/fragezeichen-wichtig-anmelden-1872634/; Lizenz: Pixabay License
Kognitive Dissonanz – Theorie von Leon Festinget – ist in det Psychologie eine der am besten bestätigten Theorien. Warum ist dies sowenig bekannt? Und wenn man sich darauf bezieht, wird es angezweifelt? Ja, wie im Artikel angesprochen: Wenn man etwas weiß, dann kann man darauf aufbauen….und auch ändern. Aber das ist ja bei Propaganda und Gehirnwäsche nicht gewollt.